Lebenskunst 11.6.2023, Gerhard Langer

Bibelessay zu Hosea 6,3–6

Es ist wohl eine der bekanntesten Stellen des Alten oder Ersten Testaments, jenes Diktum des Propheten Hosea, wonach Gott nicht an Opfern Gefallen hat, sondern an der Gotteserkenntnis.

Diesem Wort ging eine bestimmte Erfahrung voraus, nämlich die der Strafe Gottes für Israels Abkehr vom Gott der Bibel. Die zentrale Erkenntnis darin lautet: Gott straft nicht ewig, vielmehr ist sein heilsames Kommen gewiss. Seine Warnungen, die er durch seine Prophetinnen und Propheten äußerte, haben das Volk zwar in einem übertragenen Sinn schwer geschädigt, aber nach dem Fall soll die Hoffnung reifen.

Gerhard Langer
ist katholischer Theologe und Professor für Judaistik an der Universität Wien

Von der befreienden Kraft des Wissens

Im Zentrum steht dabei eine gerechte Gesellschaft. Sie zu erreichen, und das ist die Quintessenz der Botschaft, verlangt Gotteserkenntnis. Es verwundert nicht, dass nicht nur die christliche Tradition sich gern auf diesen Hoseatext bezieht, sondern auch die jüdische darin einen wichtigen Anknüpfungspunkt für eine Gesellschaft fand und findet, die ohne Opferkult und ohne Tempel dastand, nachdem dieser zuerst von den Babyloniern und schließlich von den Römern zerstört worden war.

Der Tempel in Jerusalem war lange Zeit das Zentrum jüdischer Identität gewesen, ein Ort, der direkt einen Bezug zu Gott herstellte und der, vermittelt durch Wallfahrt und Opfer, die Nähe Gottes zu garantieren schien. Nach seiner Zerstörung werden die Worte des Hosea daher zum Anknüpfungspunkt für eine Lehre, die bis heute nichts an Gültigkeit verloren hat. So heißt es etwa in einem jüdischen Text der Spätantike, in den Avot de Rabbi Natan, dass, wenn ein Gelehrter sich mit der Weisung Gottes beschäftigt und diese an seine Schüler weitergibt, es ihm angerechnet wird, als habe er Opfer auf dem Altar dargebracht.

Lebenskunst
Sonntag, 11.6.2023, 7.05 Uhr, Ö1

Die Beschäftigung mit der Tora, einem bedeutsamen Teil der hebräischen Bibel, ersetzt das Opfer. Es ist wohl nicht abwegig, daraus auch eine Lehre für das Heute zu ziehen. Bildung und Wissen sind nicht nur nützlich, sie können in einem ganz tiefen Sinn auch von religiöser Bedeutung sein. Durch Bildung nähert sich der Mensch Gott an, bringt ihm im übertragenen Sinn Opfer dar.

Manche streng orthodoxen Juden haben daraus auch eine Verpflichtung abgeleitet, sich ganz dem Studium der Tora zu widmen. Doch lässt sich dieser Grundsatz auch in einem weiteren Sinn verstehen. Die gerechte Gesellschaft, von der Hosea als Ideal spricht, kann auch für Menschen ohne große religiöse Bindung ein Ansporn sein, sich durch Wissen auszuzeichnen. Bildung steht dem Fortschritt einer Gesellschaft nicht im Weg, im Gegenteil. Eine im umfassenden Sinn gerechte Gesellschaft braucht Wissen, Forschung, Erkenntnis, braucht das Lernen. Dieses Lernen ist dann nicht nur Selbstzweck, sondern dient allen und soll allen dienen. In einer Zeit wachsender Wissenschaftsskepsis und zunehmender Angst vor der Zukunft ist es umso bedeutsamer, nicht aufzuhören, an die befreiende und rettende Kraft von Wissen und Bildung zu glauben.