Lebenskunst 15.8.2023, Mariä Himmelfahrt, Ingrid Fischer

Bibelessay zu Offenbarung 11,19a; 12,1–6a.10ab

Was für eine Szene! Das Fest, dem in der katholischen Leseordnung dieser eindrucksvolle Text zugeordnet ist, hatte seit seiner Entstehung im 4. Jahrhundert in Ost und West variierende Namen und Inhalte.

Aus dem ursprünglichen Marientod – ihrer Entschlafung und Versetzung aus dem Grab in den Himmel – wurde ihr aktiver Hinübergang, volkstümlich Mariä Himmelfahrt. 1950 als Dogma verkündet feiert die katholische Kirche am 15. August, nun korrekt formuliert, die passive leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel.

Ingrid Fischer
ist Psychologin, Humanbiologin und Theologin

Eine Frau, umgeben von Sonne, Mond und Sternen

Dieser Abschnitt stammt aus dem letzten Buch der christlichen Bibel, der „Offenbarung des Johannes“, einer um das Jahr 70 verfassten Trostschrift für sieben verfolgte Christengemeinden Kleinasiens. Er ist hochdramatisch: Eine Frau wird während ihrer Niederkunft von einem gefährlichen Drachen bedroht, der darauf lauert, ihren zur Herrschaft über die Völker bestimmten Sohn zu fressen.

Kaum geboren, wird er jedoch wundersam in den Himmel entrückt. Was folgt, spart der eben gehörte Text aus: Seine Mutter kann in die Wüste fliehen, wo sie während ihrer Verfolgung versorgt wird. In dem danach tobenden Endkampf zwischen dem Erzengel Michael und seinen Scharen mit dem Drachen – der den Satan symbolisiert –, stürzt dieser samt Gefolge aus dem Himmel auf die Erde, um noch eine Zeitlang sein Unwesen zu treiben. Erst beim Ruf der Sieger setzt der Lesungstext wieder ein.

Die falsche Schlange

Ein seltsamer Vorgang, doch für wen oder wofür stehen die Akteure? Die kosmisch ausgestattete Frau steht anfangs für die Kirche, später für Maria, denn sie gilt als Urbild der Kirche. Ihrem Sohn, dem Gesalbten Gottes und künftigen Weltenherrscher, wird letztlich der rettende Sieg über die widergöttliche Macht zuerkannt.

In der Bibel finden sich für diese Macht des Bösen auch die Bezeichnungen „die alte Schlange“, ewiger Verführer und Ankläger der Menschen. So endet eine Feindschaft, die im ersten Buch der Bibel, dem Buch Genesis, mit dem Sündenfall ihren Anfang genommen hatte: Dort heißt es „Feindschaft setze ich zwischen dir und der Frau, zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen. Er trifft dich am Kopf und du triffst ihn an der Ferse.“ (Gen 3,15)

Lebenskunst
Dienstag, 15.8.2023, 7.05 Uhr, Ö1

Doch eine kleine Textvariante in der lateinischen Bibel Vulgata – aus ipsum wurde ipsa – machte statt des Nachkommen, die Frau selbst zur Schlangenzertreterin. So hat Maria sich – verschmolzen mit der Erscheinung der sternenumkränzten apokalyptischen Frau – in unzähligen Gemälden und Skulpturen der katholischen Ikonografie und Frömmigkeit eingeschrieben.

Ein Versprechen an alle Frauen

Manchmal würde ich dieses Mädchen aus Israel gerne mit leisem Zweifel fragen, ob sie sich darin wiederfindet, so erhaben über ihre Geschlechtsgenossinnen. Nein, ich sehe Maria in diesem Text der Offenbarung als Versprechen an alle Frauen, die in U-Bahnstationen und Bunkern schutzlos in Todesangst gebären, die vor den Drachen in Menschengestalt über Meere und in Wüsten fliehen und deren Kinder grausame Tode sterben.

Ein Versprechen auch an alle, die dem Bösen zum Trotz Gutes „zur Welt“ bringen und dabei wie die symbolische Frau aus der Offenbarung und wie Maria, in Lebensgefahr geraten, fliehen müssen, Ohnmacht erfahren. Mein Trost, vielleicht auch ihr Trost, kommt aus dem Glauben an jenen Nachkommen der Frau, der dem Tod das letzte Wort genommen hat.