Lebenskunst 24.9.2023, Mirja Kutzer

Bibelessay zu Matthäus 20,1-16

Ich sag es gleich vorweg: Ich bin für ein bisschen Kitsch zu haben. Ich mag Happy Ends oder jedenfalls Geschichten, die irgendwie besser sind als das, was man im Alltag normal so erwartet.

Wahrscheinlich gehört deshalb diese Erzählung von den Arbeitern im Weinberg auch zu meinen Favoriten aus der Bibel, in der ja weiß Gott nicht alle Geschichten gut ausgehen. Um zu erkennen, warum diese Geschichte einfach besser ist als das Leben, muss man ein bisschen von der sozialgeschichtlichen Bibelexegese lernen.

Wenn sich Gerechtigkeit mit Großzügigkeit verschwistert, dann wird das Leben besser

Mirja Kutzer
ist katholische Theologin und lehrt an der Universität Kassel

Diese hat herausgearbeitet, wie es so war mit den Tagelöhnern, die in der von Jesus erzählten Geschichte auf dem Markt sitzen und darauf warten, dass sie jemand anheuert. Menschen wie diese hatten damals keine feste Arbeitsstelle. Tag für Tag waren sie darauf angewiesen, dass jemand sie einstellt … eine Situation großer sozialer Unsicherheit.

Manche hatten wohl wenig Probleme. In der Szenerie, die der Text entwirft, schwingt für damalige Ohren ganz selbstverständlich mit, dass der Weinbergbesitzer die Kräftigen und Leistungsfähigen zuerst anheuert. Mit ihnen vereinbart er einen Denar – einen guten Lohn für einen Tag. Und für kurze Zeit ist der Lebensunterhalt wieder gesichert.

Der Weinbergbesitzer in der Geschichte geht nun mehrfach hinaus, und immer wieder heuert er neue Arbeiter für seinen Weinberg an. Was er mit den Einzelnen an Lohn vereinbart, wird nicht gesagt. Schon spät am Tag tut er es noch einmal. Auf dem Markt stehen noch diejenigen, die bis zum Abend keinen Job gefunden haben. Wir können annehmen, dass es eben nicht die Leistungsfähigsten sind.

Vielleicht…

Vielleicht sind sie älter, haben körperliche Beeinträchtigungen. Vielleicht weiß man von dem ein oder anderen, dass er nicht sehr gewissenhaft oder fleißig ist. Aber vielleicht hat er dennoch eine Familie zuhause, die essen muss. Und am Ende – die Geschichte baut hier gezielt Spannung auf – bekommen alle, egal wie lange sie gearbeitet haben, einen Denar: einen guten Lohn für einen Tag, der sicherstellt, dass das Leben weitergeht.

Lebenskunst
Sonntag, 24.9.2023, 7.05 Uhr, Ö1

Vor meinem inneren Auge baut sich nun ein bisschen Hollywood-Kitsch auf: Da kommt einer der Arbeiter nach Hause zu seiner Familie. Er geht nicht sehr schnell, denn er ist schon lange keiner mehr von den Schnellen. Zuhause herrscht der Hunger, denn schon lange verdient er nicht mehr genug, um alle satt zu machen. Aber heute? Heute ist genug Geld da, um einmal richtig einzukaufen und zu kochen. Alle sitzen um einen Tisch, verschieben die Sorgen auf morgen, plaudern fröhlich und essen, bis die Schüsseln leer sind.

Letzte Einstellung meines inneren Films: Auch der Weinbergbesitzer sitzt in seinem Haus beim Abendessen im Kreis seiner Lieben. Er freut sich darüber, dass das Leben es gut mit ihm gemeint hat und dass er heute für manche das Leben ein bisschen besser machen konnte. Er nickt zufrieden, als wollte er sagen: Seht ihr? Wenn sich Gerechtigkeit mit Großzügigkeit verschwistert, dann wird das Leben besser. Ist das nicht ein schönes Ende?

Mit den bessere Geschichten, ist es wie mit Gott

Und damit zurück in die schnöde Realität und die Frage nach der Bedeutung der Geschichte, oder genauer: nach ihrer Wirkung. Denn solche fiktionalen Erzählungen, wie Jesus sie benutzt, sind keine unmittelbaren Handlungsanweisungen, keine Handreichung für Weinbergbesitzer oder sonstige Chefs. Sie sind auch nicht einfach Behübschungen irgendwelcher spiritueller Wahrheiten, auch wenn schon die Evangelien selbst dazu neigen, sie darauf zu reduzieren.

Diese Texte kurbeln zunächst die Fantasie ihrer Leserinnen und Leser an. Sie provozieren ein Kino im Kopf, in dem die Welt ein wenig anders, womöglich besser erscheint, als sie für gewöhnlich ist. Und vermittelt, darüber stellen sie die Frage, in welcher Welt wir leben wollen. Vielleicht ändern diese Texte dann den Blick auf das, was wir für unverrückbar halten. Und in die Gerechtigkeit schreibt sich die Großzügigkeit ein.

Daher mein Faible für Happy Ends oder einfach für die besseren Geschichten. Mit den besseren Geschichten, so habe ich es einmal bei dem Schriftsteller Yann Martel gelesen, ist es wie mit Gott. Ohne sie „werden wir an nichts mehr glauben können, und keiner unserer Träume wird mehr etwas wert sein.“