Lebenskunst 21.1.2024, Michael Kapeller

Weil kirchliche Kunst nicht judenfeindlich sein darf

Erfahrungen und Lösungsvorschläge eines Kärntner Theologen: Ich durchschreite das Friedhofsportal, passiere den Friedhof und gelange so in die Vorhalle der ehemaligen Stiftskirche Millstatt.

Vor dem romanischen Trichterportal und der mit spätgotischem Maßwerk geschmückten Holztür mache ich kurz Halt. Die tief eingekerbte Türschwelle zeugt von den vielen Frauen und Männern, die seit der Errichtung der Kirche im 12. Jahrhundert dieses Gotteshaus aufgesucht haben – um dort zu beten, Gottesdienst zu feiern oder um ein wenig zu verweilen.

Michael Kapeller
ist Leiter des Instituts für kirchliche Ämter und Dienste der Diözese Gurk

Verborgene Botschaft

Wenige Schritte trennen mich noch von meinem Ziel, dem zweiten südlichen Pfeiler des Hauptschiffes. Dort befindet sich von Bankreihen eingefasst eine Wandmalerei, die in die Zeit um 1430 datiert wird. Ich lasse mich jedoch nicht auf einer Kirchenbank nieder. Stehend betrachte ich dieses Bild mit dem Kreuz Christi im Zentrum. Darunter betrauern Maria und einer der Jünger von Jesus, Johannes, seinen Tod.

Über ihnen befinden sich zwei Frauengestalten auf Thronen – die eine sitzt aufrecht und würdig, ist mit kostbarem Gewand bekleidet und trägt eine Krone. Ihr rechter Arm fasst nach einer Lanze mit einem Kreuzesbanner. In der linken Hand hält sie einen Kelch, der das Blut aus der Seitenwunde Jesu aufnimmt. Die andere Königin ist gebückt, die Krone fällt ihr vom Haupt und ihre Augen sind verbunden. Ihre Lanze ist an zwei Stellen zerbrochen. In der linken Hand hält sie ein geöffnetes Buch, das sich auflöst. Blätter flattern zu Boden.

Wie oft habe ich diese Kirche bereits aufgesucht und dieses Bild betrachtet? Im nur zehn Kilometer entfernten Spittal an der Drau aufgewachsen, habe ich Millstatt zuerst mit meinen Eltern und Schwestern zu Konzerten besucht oder einfach nur, weil diese Kirche so besonders schön ist. Als junger Erwachsener habe ich Pilgergruppen auf dem Domitianweg begleitet, dessen Ziel- und Höhepunkt die Domitiankapelle in der Pfarrkirche Millstatt ist. Und diese Wandmalerei, die beim Betreten der Kirche förmlich den Blick auf sich zieht? Was habe ich darin gesehen? Wahrgenommen habe ich die Kreuzesdarstellung sowie Maria und Johannes. Die Botschaft der beiden Frauengestalten ist im Dunkeln geblieben.

Lebenskunst
Sonntag, 21.1.2024, 7.05 Uhr, Ö1

Ecclesia und Synagoga

Erst durch einen Hinweis von Markus Himmelbauer, dem ausgewiesenen Experten des christlich-jüdischen Dialogs, wurde mir klar: Bei den beiden ungleichen Königinnen handelt es sich um Personifikationen der Ecclesia, der Kirche und der Synagoga, des Judentums. Gemeinsam mit Klaus Einspieler, dem Bibelreferenten der Diözese Gurk, habe ich mich dann eingehend mit dieser Wandmalerei beschäftigt.

Und nun stehe ich wieder vor diesem Bild. Deutlich tritt für mich das theologische Bildprogramm hervor: Der Kelch, mit dem Ecclesia das Blut Christi auffängt, ist ein Hinweis auf die Eucharistie und den Neuen Bund, den – so die christliche Theologie – Jesus beim Letzten Abendmahl und durch seine Hingabe am Kreuz besiegelt hat. Und das Buch, das sich in der Hand der Synagoga auflöst, steht für das Gesetz, also den Alten Bund. Im Kontrast dazu hält Johannes in seiner linken Hand einen festgefügten vierteiligen Codex, der die vier Evangelien symbolisiert.

Bildgewordene Judenfeindlichkeit

Somit legt sich die Aussageabsicht der Wandmalerei nahe: Das Gesetz hat seine heilschaffende Kraft verloren, der Alte Bund wurde von Gott gekündigt und vom Neuen Bund abgelöst. Dies entspricht nicht der biblischen Botschaft. Jesus ist nicht gekommen, den Bund mit Israel zu überwinden, sondern ihn zu erneuern. Somit ist diese Abwertung der Synagoga Ausdruck einer Bild gewordenen, religiös motivierten Judenfeindlichkeit.

Gedanken jagen mir durch den Kopf: Wer hat sich dieses Bildprogramm ausgedacht? Welche Rolle hat der ausführende Künstler gespielt? Und vor allem: Welche Auswirkungen hatte so eine Sichtweise des Judentums auf die Jüdinnen und Juden, die Mitte des 15. Jahrhunderts im Umfeld der Stiftskirche Millstatt gelebt haben? Mit einem beklommenen Gefühl verlasse ich Millstatt.

Heute weisen eine Informationstafel vor der Wandmalerei und ein Einlageblatt im Kirchenführer auf die judenfeindliche Darstellung der Synagoga hin. In der Pfarre Millstatt wird dies wohlwollend aufgenommen. Das lässt hoffen.