Lebenskunst 28.1.2024, Wolfgang Treitler

Bibelessay zum 1. Korintherbrief 7,32-35

Paulus war ein Pharisäer, ein gläubiger Jude und Schriftgelehrter, der an Jesus als den Messias, den Gesalbten Gottes glaubte; der Messias muss das Gottesreich und den universalen Frieden bringen. Doch weil das nicht zu Jesu Lebzeiten geschehen war, entwickelte Paulus die Idee, dass dieser Messias ein zweites Mal kommen werde.

Diese Idee bildet den Hintergrund des Textes aus dem Ersten Korintherbrief. Paulus erwartet, dass Jesus in Kürze das zweite Mal kommen werde. Angesichts dieser kurzen Frist ist es wenig sinnvoll, eine Familie zu gründen. Dafür wird die Zeit nicht reichen.

Als Pharisäer wusste Paulus aber auch, dass die Ehe und die Hervorbringung von Nachwuchs, wenn man dazu imstande ist, eine heilige Pflicht im Judentum darstellen. Deshalb gab und gibt es im Judentum für niemanden je die Verpflichtung, allein zu leben.

Zwischen Innerlichkeit und Weltlichkeit

Verständlich, dass Paulus in seinen Überlegungen zur Lebensform sehr vorsichtig ist, weil er eingespannt ist zwischen der Heiligkeit der Familie und der Erwartung des baldigen zweiten Kommens des Messias. An einen Zölibat, wie ihn die katholische Kirche heute für Priester und Ordensleute kennt, hatte Paulus nicht gedacht – und das aus mehreren Gründen:

Wolfgang Treitler
ist katholischer Theologe und Judaist

Eine zölibatäre Lebensweise auf Jahrzehnte hin war nicht sein Thema. Der Leibfeindlichkeit hatte Paulus nicht gehuldigt, wie sie über griechisches Denken ins Christentum gelangt ist und von den griechisch gebildeten Gelehrten des antiken Christentums gepflegt wurde. Zudem konnte Paulus gewiss nicht ahnen, wie lange die Zeiten weiterlaufen und was sie bringen werden.

Schließlich konnte er nicht vorwegnehmen, dass das Christentum die Reinheit des Zölibats auch mithilfe einer schrecklichen Karikatur stabilisieren werde, in der man sich den Juden als Menschen der Fleischeslust und der sexuellen Gier gegenüberstellte. Im Mittelalter führten solche Vorstellungen zu radikalen Ausgrenzungen jüdischer Gemeinschaften aus dem Kosmos des Christentums und später zu einem Judenhass, der teils in einer Sprache vorgetragen wurde, die für die Vernichtungssprache der Nationalsozialisten und für die Schoa das Vorbild werden konnte.

Der durchaus brüchige Weg von den Fragen des Paulus über deren judenfeindliche Umformung hin zur Schoa ist gut erkennbar. Er ist ein bedrückendes Beispiel dafür, wie biblische Themen antijüdisch umgewertet wurden und auf jüdische Gemeinschaften katastrophal einwirkten.

Den Glauben an Gott aufrecht erhalten

Lebenskunst
Sonntag, 28.1.2024, 7.05 Uhr, Ö1

Am 27. Jänner jährte sich zum 79. Mal der Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. Dieser Tag erinnert als „Internationaler Holocaust-Gedenktag“ alljährlich daran. Dass dieses überhaupt jemand überleben konnte, ist ein übermenschliches Hoffnungszeichen. In jedem jüdischen Kind, das seither zur Welt gebracht wurde, wird die Hoffnung real, dass der Vernichtungswille nicht gesiegt hat.

An eben dieser Hoffnung sollten sich alle Christinnen und Christen lebhaft beteiligen. Denn der Messias ist kein zweites Mal gekommen und die auf ihn bezogene Ehelosigkeit so nicht zu halten, wie Paulus sie gedacht hatte.

Die Hoffnung, die sich heute entschlossen „auf den Herrn“, wie es heißt, richtet, ist meiner Auffassung nach wohl diese: den Glauben an Gott durch alle Generationen hindurch aufrecht zu erhalten. Das ist eine reale Hoffnung, die auch wirklich trägt und alle Tage gefeiert werden kann, in der lebendigen Verbindung von Generation zu Generation.

Denn – so verschieden sie sind: Heute gehören die Sorge um das, was mit Gott zu tun hat, und die Sorge um die Welt, zusammen. Denn so, wie man den Mitmenschen in der Welt ehrt und vielleicht sogar liebt, ehrt und liebt man ihn – religiös gesprochen – um Gottes willen. Am Mitmenschen vorbei gibt es keine Gottesbeziehung. Der geliebte Mitmensch ist die größte Gabe, die der Schöpfer einem Menschen bereitet hat.