„Das letzte Abendmahl“ von Leonardo da Vinci (1497)
Reuters/Stefano Rellandini
Reuters/Stefano Rellandini
Christentum

Der Konflikt um das Erbe von Jesus Christus

Mit Tod und Auferstehung Jesu hat die Geschichte des Christentums erst begonnen. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht abzusehen, dass sich die junge jüdische Bewegung zur einflussreichsten Religion der Welt entwickeln sollte – denn ihre Frühzeit war von Konflikten unter ihren Anhängern geprägt.

Wer hat eigentlich das Christentum „erfunden“ und die Lehre von Jesus Christus in die Form gebracht, wie wir sie heute kennen? Einen enormen Anteil daran hatte ein Mann, der Jesus nie gesehen hatte: der Apostel Paulus. Dem geht der Historiker Johannes Fried in seinem neuen Buch „Jesus oder Paulus. Der Ursprung des Christentums im Konflikt“ nach.

Mit dem 2019 erschienenen „Kein Tod auf Golgatha“ stellte der renommierte deutsche Historiker eine steile These auf, untermauert durch Passionsberichte und apokryphe Schriften, aber auch Fakten der modernen Medizin: Jesus, so ist Fried überzeugt, habe die Kreuzigung überlebt und sei daher erst gar nicht gestorben. Demnach könne es auch keine Auferstehung gegeben haben, den Kern von christlicher Lehre und Glauben.

„Das letzte Abendmahl“ von Leonardo da Vinci (1497)
Reuters/Stefano Rellandini
Konflikte prägten die frühchristlichen Gemeinden nach Jesu Tod und Auferstehung („Das letzte Abendmahl“ von Leonardo da Vinci, 1497)

Mit dieser Theorie von der „Grabflucht“ sorgte er für Aufruhr in den deutschsprachigen Feuilletons und neben viel Interesse einiges an Widerspruch, auch von renommierten Theologen. Man merkt es auch dem Nachfolgebuch „Jesus oder Paulus“ an, dass Fried noch immer Erklärungs- und Rechtfertigungsarbeit leistet. Doch geht der Autor einen Schritt weiter, weg von den Spekulationen über den durch Essiggabe und Lanzenstich in die Seite (vgl. Joh 19,34) mutmaßlich geretteten Jesus.

Eine „historische Spurensuche“

Auch bei „Jesus und Paulus“ handelt es sich um eine „historische Spurensuche“, wie der zweite Untertitel ausweist. Frieds Interesse gilt hier der Entwicklung, die im Fahrwasser der österlichen Ereignisse rund um Christus stattfand – der „Konflikt“, von dem im Buchtitel die Rede ist, habe sich zwischen Jesu Jüngern, die ihm schon zu Lebzeiten nachfolgten, und dem Apostel Paulus abgespielt, so Fried.

Buchcover Johannes Fried: Jesus oder Paulus. Der Ursprung des Christentums im Konflikt.
C H Beck Verlag
Johannes Fried: Jesus oder Paulus. Der Ursprung des Christentums im Konflikt. Beck, 200 Seiten, 22,70 Euro.

Von Konflikten mit der Gemeinde um die Jesus-Jünger schreibt Paulus selbst im Brief an die Galater: „Als Kephas (gemeint ist Petrus, Anm.) aber nach Antiochia gekommen war, bin ich ihm offen entgegengetreten, weil er sich ins Unrecht gesetzt hatte“ (Gal 2,11). Petrus hatte es gewagt, mit „den Heiden“ zu essen.

An Selbstvertrauen dürfte es dem als römischem Bürger geborenen Paulus nicht gemangelt haben: Petrus galt immerhin als eine der „Säulen“ der Jerusalemer Urgemeinde, als Sprecher der Apostel, und nicht zuletzt hatte er Jesus gut gekannt und war Augenzeuge der Kreuzigung gewesen.

Streit unter den Jesus-Jüngern

Tatsächlich gehört es zu den bemerkenswertesten Umständen in der Frühgeschichte des Christentums, dass ein einzelner Mann, der sich lediglich auf eine Vision berufen konnte, die Wortführerschaft in Sachen der Lehre Christi für sich in Anspruch nahm: Paulus aus Tarsus in der römischen Provinz Kilikien in der heutigen Türkei, obschon als Apostel tituliert, war schließlich keiner der eigentlichen Jünger – er war Jesus nie physisch begegnet. Lediglich auf eine Vision berief sich der gelernte Zeltmacher.

„Seine Eingebungen galten ihm als Offenbarungen Christi in ihm selbst, galten ihm als das einzige, das wahre Evangelium, neben dem es kein zweites geben durfte, sonst wäre alles umsonst (vgl. Gal 1,6–7 und 1–2)“, schreibt Fried. „Viele glaubten ihm. Paulus empfand sich als Medium der Wahrheit.“

Wie stark das Neue Testament von diesem Mann beeinflusst ist, legt Fried ausführlich dar. Einen Punkt betont der Historiker dabei besonders: dass Paulus, im Gegensatz zu den Jüngern und dem vertrauten Kreis um Jesus, aus einer ganz anderen Umgebung stammte. Anders als die einfachen Leute, die die zwölf Apostel laut Überlieferung waren, war Paulus ein hellenistisch gebildeter Pharisäer, ein Schriftgelehrter.

Vom Verfolger zum Verfechter

Vom Verfolger der neuen Jesus-Nachfolger wurde er durch seine Vision von Christus als dem Messias (Damaskus-Erlebnis) zum glühendsten Verfechter von dessen Lehre bekehrt. Er war der Überzeugung, dass auch Heiden – nicht nur Juden – sich direkt zum Christentum bekennen konnten und sollten. Das bestätigte das als „Apostelkonzil“ bekannte Treffen in Jerusalem (48/49 n. Chr.), an dem neben Paulus und einigen seiner Begleiter die „Säulen“ der Gemeinde, Petrus, der „Herrenbruder“ Jakobus und Johannes teilnahmen.

Apostel Paulus von Bartolomeo Montagna (1482)
Public Domain/Wikipedia
Ein Mann mit viel Selbstvertrauen: Apostel Paulus von Bartolomeo Montagna (1482)

Hier galt es zu regeln, wie in den christlichen Gemeinden mit jüdischen Traditionen – etwa der Beschneidung und Speisevorschriften – umzugehen sei. Denn die Nachfolge Christi war keineswegs eine religiös einheitliche: Viele seiner Anhängerinnen und Anhänger waren „traditionsbewusst“, so Autor Fried, sie waren der Überzeugung, dass sie weiterhin die Gebote der Thora befolgen sollten, was Tempelkult, Beschneidung und andere Regeln beinhaltete.

Erlösung für alle

Dagegen wandte sich die Lehre des Paulus, der lediglich die durch „Gnade“ und den Glauben an Jesus Christus erworbene Erlösung propagierte: Jeder und jede, einschließlich Heiden, die die Taufe annahmen, konnte Christus folgen. Paulus vergleicht die Haltung seiner Gegner mit seiner eigenen „als gesetzestreuer Jude“, bevor er seine Vision vom Gottessohn empfing, und damit, „wie maßlos ich die Kirche Gottes verfolgte und zu vernichten suchte“ (Gal, 1,13-1,14).

Fried: „Paulus aber predigte in ganz neuer Weise den Heiland der ganzen Menschheit.“ Von Antiochia aus missionierte er im östlichen Mittelmeer-Raum, unter Menschen, die „heidnischen“ Religionen angehörten. „Was sollten seine Heiden mit dem Tempelkult Jerusalems?“ Aus der Abgrenzung von den jüdisch-christlichen Urgemeinden konnte später die Abspaltung des Christentums vom Judentum entstehen – mit allen, auch judenfeindlichen, Spätfolgen.

Enormer Einfluss

Der Einfluss des Paulus kann gar nicht genug hervorgehoben werden: „Paulus war nicht irgendwer. Er ist der älteste namentlich bekannte Informant zur frühesten Geschichte des entstehenden Christentums.“ Und: „Die Jünger schwiegen, keiner von ihnen griff zur Feder.“ Der als Saulus geborene Apostel sprach Griechisch, die Jünger verstanden wohl nur Aramäisch. Auch ein „Stadt-Land-Gefälle“ zwischen den beiden Seiten ortet der Historiker.

Szene aus Joh 21,1–19: Jesus offenbart sich den vom wundersamen Fischzug zurückkehrenden Jüngern, Codex Egberti, fol. 90r., 10. Jahrhundert
Public Domain/Wikipedia
Die Jünger Jesu werden als einfache Leute dargestellt (Szene aus Joh 21,1–19, Codex egberti, 10. Jahrhundert)

Nicht nur die Paulusbriefe, in denen der Apostel sich an die von ihm gegründeten Gemeinden wandte, sind prägender Bestandteil des Neuen Testaments und Grundlage der christlichen Theologie, auch ein großer Teil der Apostelgeschichte des Lukas ist Paulus gewidmet. Fried erinnert: Die Evangelien wurden erst im 2. Jh. kanonisiert, sie können daher beim besten Willen nicht als verlässliche Augenzeugenberichte gelten.

Spuren in den Apokryphen

Im apokryphen Thomas-Evangelium mit seinen 114 „Logien“, Jesus-Sprüchen, die zum Teil mit denen der kanonischen Evangelien übereinstimmen, von den Kirchenvätern aber als der Gnosis nahe stehend verworfen wurden, ortet der Historiker Spuren der Jesus-Anhänger. Weitere Zeugnisse für seine These, der gekreuzigte Jesus habe überlebt und womöglich weiter gepredigt, sieht Fried in der Didache, einer aus Syrien stammenden, ebenfalls apokryphen Schrift, die allgemein auf das erste Jahrhundert datiert wird.

Als einigendes Ereignis sieht Fried schließlich die Zerstörung des Jerusalemer Tempels 70 n. Chr. durch die Römer: „Die Spiritualisierung aber, die Paulus verbreitete, bedeutete tatsächlich die Rettung für die Jesus-Bewegung“, nachdem untergegangen war, was Jesus hatte erneuern wollen. Doch: „Die Risse in seiner uneinigen Anhängerschaft vermochte auch die aufwendigste Rhetorik nicht mehr zu kitten.“