Eine Frau mit Mundschutz in der Kirche des San-Giovanni-Addolorata-Spitals in Rom
APA/AFP/Tiziana Fabi
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Analyse

Studie: Bedeutungsverlust der Kirche in Italien

Italienische Sozialwissenschaftler stellen der katholischen Kirche des Landes in ihrer Analyse „Die verschwundene Herde“ nach der Coronavirus-Pandemie ein vernichtendes Zeugnis aus.

Darin präsentieren die Autoren um den Soziologen Giuseppe Di Rita Zahlen und Aussagen, wie Menschen im Land die katholische Kirche derzeit wahrnehmen. Demnach vermisste nur jeder vierte praktizierende Katholik und jede vierte Katholikin im Lockdown die Möglichkeit, zur Messe zu gehen.

Nach Ansicht von 40 Prozent der Befragten, bei Katholiken und Katholikinnen 50 Prozent, hat die Kirche behördliche Vorgaben in der Pandemie unkritisch hingenommen. Rund zwei Drittel der praktizierenden Gläubigen sehen die Kirche in einer Krise; für gut 40 Prozent stellt sie sich nicht wirklich aktuellen Herausforderungen.

Meinung: Pfarrer sozial ahnungslos

Die Hälfte der praktizierenden Gläubigen ist der Meinung, Pfarrer wüssten immer weniger, wie die soziale Lage in ihren Gemeinden tatsächlich aussieht. Der Gruppe, die sich „Essere qui“ (Anwesend sein) nennt, gehören neben Di Rita ehemalige Politiker wie Romano Prodi, Gennaro Acquaviva und Renato Balduzzi und der Gründer von Sant’Egidio, Andrea Riccardi, an. Ihre Analysen präsentieren sie in einem gut 150 Seiten starken, jüngst vorgelegten Buch: „Die verschwundene Herde. Kirche und Gesellschaft im Jahr der Pandemie“.

Der Verlust des gesellschaftspolitischen Standbeins habe „die katholische Kultur mehr geschwächt, als dass er sie eigenständig gemacht hat“, urteilen die Autoren. Zwar gebe es weiterhin zahlreiche soziale und karitative Aktivitäten im Katholizismus, diesen fehle aber eine gemeinsame Stimme und Vertretung, beklagt die Gruppe. Das Ergebnis sei „eine Kirche, die rede, ohne von Bedeutung zu sein und die handele, ohne etwas auszusagen“.

Mahnungen des Papstes

In einem Kommentar zu der vorgelegten Analyse für den „Corriere della Sera“ (Donnerstag-Ausgabe) erinnert der Kirchenexperte Luigi Accattoli an Mahnungen des Papstes. Unter Anspielung auf ein Jesus-Gleichnis hält Papst Franziskus katholischen „Hirten“ immer wieder vor, in den Gottesdiensten hätten sie es nur noch mit einem Schaf zu tun. Stattdessen sollten sie aus der Kirche hinausgehen und die 99 anderen suchen.

„Fundamentalistische Reaktionen“, etwa in Form eines Rückzugs oder einer Verbarrikadierung der Kirche hinter traditionellen Formen und Aussagen, lehnen die Autoren der Studie ab: „So wird man marginalisiert und verliert den konstruktiven Dialog mit der übrigen Gesellschaft“.

Stattdessen müsse die Kirche eine stärkere prophetische Rolle in der Gesellschaft einnehmen. Denn trotz ihrer Schwächung biete sie immer noch die meisten Möglichkeiten für menschliche Beziehungen. Das sei es, was Italien derzeit mehr denn je brauche.