Eine Gläubige neben einem Kruzifix im Gegenlicht
Reuters/Alkis Konstantinidis
Reuters/Alkis Konstantinidis
Buchkritik

Entrückt: Macht und Vision der christlichen Mystik

Die christliche Mystik hatte und hat ihre eigenen Gesetze: Die persönliche Erfahrung der Entrückung war oft mit Theologie, aber auch mit ganz konkreter (Kirchen-)Politik eng verbunden. Warum die Mystik Trends unterworfen war und wie gerade auch Frauen durch ihre mystischen Erfahrungen Einfluss gewannen, erklärt ein neues Buch.

Mystisch, mysteriös, geheimnisvoll: Im Alltagsgebrauch verschwimmen die Grenzen der Bedeutung. „Nicht alle Visionen sind mystisch, sondern allein jene, die auf die Erfahrung der Nähe Gottes hinzielen“, umreißt es der deutsche Kirchenhistoriker und Theologe Volker Leppin in seinem neuen Buch „Ruhen in Gott. Geschichte der christlichen Mystik“. Es gibt einen guten Überblick über das Phänomen von den Frühchristen bis zur Blut-und-Boden-Mystik der Nazis und in die heutige Zeit und überrascht mit faszinierenden Facetten eines geheimnisvollen Phänomens.

Es geht um starke Gefühle und nicht selten auch um körperliche Grenzzustände: Die Inbrunst, mit der Mystikerinnen und Mystiker ihre Erfahrungen beschrieben, wurde unter anderem mit Liebes- und erotischen Erfahrungen verglichen: „Mystische Texte teilen die Schwierigkeit von Liebesgedichten. Sie wollen etwas mitteilen, was im Letzten gerade nicht mitteilbar ist, weil es hochgradig individuell ist.“

„Damaskuserlebnis“ als Bezugspunkt

Autor Leppin, der an der Universität Yale historische Theologie lehrt, beginnt seine Spurensuche chronologisch – dem Apostel Paulus attestiert er „eine mystische Grundorientierung“. Die Begegnung mit Jesus Christus („Damaskuserlebnis“, Apg 9,1–19) und die damit verbundene Bekehrung ist mit den Schilderungen von Lichterscheinung und Stimmenhören ein mystisches Erlebnis.

Buchcover Volker Leppin: Ruhen in Gott. Eine Geschichte der christlichen Mystik
C H Beck Verlag
Volker Leppin: Ruhen in Gott. Geschichte der christlichen Mystik. C. H. Beck, 476 Seiten, 24,99 Euro.

Abgrenzung durch Besonderheit

Auch das Johannes-Evangelium habe späteren Generationen von Mystikerinnen und Mystikern „reichlich Nahrung“ gegeben (Joh 1,4: „In ihm war das Leben/und das Leben war das Licht der Menschen.“). „Und es bot seinen ersten Adressaten das süße Gefühl der Besonderheit. Ob nur in Abgrenzung von Juden und Römern oder auch von anderen Christen, ist dabei nicht ganz eindeutig.“

Enge Verbindung mit Klosterleben

Mit dem Ordensleben habe sich etwa seit dem 6. Jahrhundert ein günstiger Nährboden für den Mystizimus herausgebildet, sodass „das monastische Leben den eigentlichen Ort für Gottesschau und Mystik darstellte“.

Wie Leppin ausführt, war der Ausdruck der Mystik durchaus vom jeweiligen Zeithintergrund geprägt. So habe sich der heilige Bernhard von Clairvaux (um 1090–1153) in seinen Beschreibungen den erotischen Bildern des Hohelieds, aber auch der Sprache seiner Zeit, jener der Minnesänger, bedient: „(…) seine höfische Herkunft ließ ihn nicht los. Sie prägte seine Weise, von Christus und dessen Liebe zur Seele des Menschen zu reden.“

Erotisch-blutige Kreuzesminne

Die von Bernhard geschilderte Kreuzesminne, die körperliche Begegnung mit dem gekreuzigten Christus, erlebte ihrer Vita zufolge auch die heilige Lutgard: „In einer visionären Erfahrung lief sie auf das Kreuz zu, Christus löste seinen Arm vom Holm und drückte ihren Mund zum Kuss auf die Seitenwunde.“ Dergleichen erotisch-blutige Erlebnisse „mit ihrer der Liebeslyrik entlehnten Sprache“ gab es bei vielen Mystikerinnen und Mystikern des hohen Mittelalters.

„Die zarten Predigten über die Liebe Christi“ hinderten den „Machtmenschen“ (Leppin) Bernhard aber nicht daran, den Krieg gegen die „Ungläubigen“ zu predigen: „Als 1144 ein muslimisches Heer Edessa in Kleinasien einnahm, gehörte Bernhard zu jenen, die dazu aufriefen, nun, fast ein halbes Jahrhundert nach dem Beginn des Ersten Kreuzzugs, wieder zu den Waffen zu greifen (…).“

Bibelexpertise via Mystik

Als Mystikerin verstand sich auch die heilige Hildegard von Bingen (1098–1179), nachdem sie im Jahr 1147 durch „ein feuriges Licht“ schlagartig „Einsicht in die Schriftauslegung, in den Psalter, die Evangelien und die übrigen katholischen Bücher des Alten und Neuen Testaments“ erhielt. Mit diesem Erlebnis wurde Hildegard, der als (hochgebildeter) Frau der Zugang zur Theologie verwehrt war, zu einer ernstzunehmenden Instanz in Sachen Schriftauslegung.

Hildegard von Bingen empfängt eine göttliche Inspiration und gibt sie an ihren Schreiber weiter. Miniatur aus dem Rupertsberger Codex des Liber Scivias, um 1180, Autor unbekannt
Public Domain/Wikipedia
Hildegard von Bingen empfängt eine göttliche Inspiration und gibt sie an ihren Schreiber weiter (Miniatur aus dem Rupertsberger Codex des Liber Scivias, um 1180)

Diese „war jetzt nicht mehr nur durch scholastische Ausbildung möglich (…) und blieb nicht allein gelehrten Männern vorbehalten“, so Leppin. Der Autor legt nahe, dass das ein Grund für die hohe Zahl an Mysterikerinnen sein könnte: „(…) akademische Bildung (…) und erst recht die im dreizehnten Jahrhundert aufkommenden universitären Studien blieben Frauen für Jahrhunderte verwehrt.“

Schlupfloch für Frauen

Durch die Mystik und die mystische Literatur konnten – vorwiegend geistliche – Frauen Einfluss ausüben. Die Obrigkeit sah das nicht immer gern, insbesondere, wenn die Offenbarungen der Mystikerinnen nicht dem Geschmack der Kircheninstitutionen entsprachen. Einige von ihnen schrieben ihre Erlebnisse selbst nieder wie die berühmte Mechthild von Magdeburg (gest. 1282). Ihre ebenfalls an Liebeslyrik erinnernden „Erlebnisse“ gelten als Zeugnisse früher deutschsprachiger Literatur.

Darstellung der heiligen Katharina von Siena mit Stigmata (Ölgemälde von Giovanni Battista Tiepolo, um 1746)
Public Domain/Wikipedia
Einflussreiche Mystikerin: Katharina von Siena mit Dornenkrone und Stigmata (Giovanni Battista Tiepolo, um 1746)

Als besonders einflussreiche Mystikerinnen nennt Leppin weiters Birgitta von Schweden (1303–1373) und Katharina von Siena (1347–1380): „Beide drängten unter Berufung auf Offenbarungen Gottes die Päpste“, den Papst-Sitz von Avignon wieder nach Rom zurückzuverlegen – mit Erfolg.

Der schmale Grat zur Häresie

Oft war der Grat zur Häresie ein schmaler: Manch ein Mystiker, eine Mystikerin wurde der Ketzerei bezichtigt. Der Dominikaner Meister Eckhart, dessen Predigten unkonventionell und von der klassischen Philosophie geprägt waren, wurde 1325 wegen Häresie angeklagt. Ihm wurde unter anderem vorgeworfen, den Laien Überlegungen vorzutragen, die diese verwirren konnten.

Weniger bekannt sind vielleicht die Mystikerinnen und Mystiker der Neuzeit: Leppin führt in „Ruhen in Gott“ in die „amerikanische Freiheit“ der Quäker und schildert die als „Heiliges Experiment“ bezeichnete (vorübergehende) weltliche Herrschaft in Pennsylvania: „Mystik war in der Moderne angekommen.“ Über die Philosophie des französischen Denkers Blaise Pascal (1623–1662) und dessen religiöses „Bekehrungserlebnis“, die Pietisten und Herrnhuter führt der Autor bis ins zwanzigste Jahrhundert, dessen Zeitgeist Mystik „atme“.

Meister Eckhart und die Nazis

Hier begegnen Leserin und Leser auch Meister Eckhart wieder, leider in unguter Gesellschaft: Die Nationalsozialisten reklamierten ihn als „deutschen Mystiker“ für sich. Meister Eckhart und die Mystik seien so „zu Kronzeugen eines eliminatorischen Rassismus“ gemacht worden, so der Autor.

Der Theologe Leppin beleuchtet die christliche Mystik aber nicht nur theologisch-historisch, sondern auch den Niederschlag, den sie in der Kunst fand, allen voran in der Literatur (hier speziell in der Romantik, aber auch bei dem modernen Dichter Rainer Maria Rilke), in der Musik und der bildenden Kunst.

Mystik durchzog so alle gesellschaftlichen Bereiche und blieb natürlich auch ein Thema in Philosophie und Theologie. Es mag auf den ersten Blick erstaunen, dass der Existenzphilosoph Martin Heidegger (1889–1976) 1949 in einem Brief an Karl Jaspers (1883–1969) erklärte, zu den drei Wurzeln seines Denkens gehöre Meister Eckhart.

Mystik als Impuls für Widerstand

Die aus einer jüdischen Familie stammende Französin Simone Weil (1909–1943) „wandte sich (…) dem Christentum und seiner mystischen Deutung zu und entwickelte diese zu einer kämpferischen Identifikation mit dem Leiden weiter“.

Sie arbeitete trotz ihrer schwachen Gesundheit als Fabrikarbeiterin, kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Republikaner und stellte sich im Zweiten Weltkrieg Charles de Gaulle (1890–-1970) für den Kampf um die Befreiung Frankreichs von den Deutschen zur Verfügung. Leppin: „Weils Mystik wurde zum Impuls für Protest und Widerstand.“