Mit Kindertransporten gerettete Menschen bei einem Besuch ihrer alten Heimat vor dem Mahnmal für die Österreichischen jüdischen Opfer der Schoah auf dem Judenplatz
Jewish Welcome Service
Jewish Welcome Service
Österreich

Wie Juden ihre verlorene Heimat entdecken

Vor vierzig Jahren hat das Jewish Welcome Service begonnen, von den Nazis vertriebene Jüdinnen und Juden einzuladen, um sie mit dem neuen Wien bekanntzumachen. Mittlerweile sind es vor allem Angehörige der zweiten und dritten Generation, die die verlorene Heimat ihrer Vorfahren besuchen – eine oftmals emotionale, aber heilsame Erfahrung.

Die meisten Nachkommen seien über das Angebot nach Österreich zu kommen erfreut, sagt Susanne Trauneck, Generalsekretärin des Jewish Welcome Service, im Gespräch mit religion.ORF.at. Viele würden spontan zusagen, manche müssten länger überlegen und kommen dann nach der zweiten oder dritten Kontaktaufnahme.

"Die Gefühle sind oft ambivalent“, sagt Trauneck. „Sie wollen die Heimat ihrer Vorfahren kennenlernen, sind aber auch sehr abgeschreckt von dem, was ihnen hier angetan wurde“. Heilsam sei für diejenigen, die herkommen, unter anderem das Gruppenerlebnis, die Möglichkeit, sich mit anderen auszutauschen.

„Mit Tränen in den Augen“

Der Besuch in Österreich hinterlasse bleibende Eindrücke, das gehe aus zahlreichen E-Mails hervor. So habe ihr eine junge Frau geschrieben: „Wir waren in der großen Synagoge. Dort haben meine Großeltern 1938 geheiratet, unmittelbar bevor sie das Land verlassen mussten. Ich bin mit Tränen in den Augen dagesessen und habe mir vorgestellt, wie diese Zeremonie wohl gewesen ist."

Einer, für den der Wien-Besuch auf Initiative des Jewish Welcome Service eine zentrale Weichenstellung in seinem Leben war, ist der US-Amerikaner Michael Turek. Seine Mutter wurde als 11-Jährige mit einem Kindertransport nach England geschickt und dadurch gerettet. Seine Großeltern, Klara und Max Frommer, wurden vom NS-Regime ermordet.

Spurensuche in der Leopoldstadt

Im Jahr 2018 machte sich Turek zu einer Spurensuche in die Leopoldstadt, dem zweiten Bezirk Wiens, auf, in dem vor der Shoah viele Jüdinnen und Juden lebten – wie auch seine Mutter. Er besuchte tief berührt das Haus, in dem sie gewohnt hatte. Der Weg der Versöhnung, der 2018 mit der Reise nach Wien für ihn begonnen hatte, hat vor einigen Wochen wohl einen Höhepunkt erreicht.

Der amerikanische und seit Kurzem auch österreichische Staatsbürger, Michael Turek, vor dem Mahnmal für die Österreichischen jüdischen Opfer der Schoah auf dem Judenplatz
Michael Turek
Michael Turek besuchte in Wien auch das Holocaust-Denkmal am Judenplatz

Nach einer Neuregelung des österreichischen Staatsbürgerschaftsgesetzes, die es direkten Nachkommen im NS-Regime Verfolgter erleichtert, einen österreichischen Pass zu erhalten, bewarb sich Turek um die Staatsbürgerschaft und erhielt sie auch. "Ich war und bin beeindruckt von der Bereitschaft Österreichs, sich dem dunkelsten Kapitel seiner Geschichte zu stellen“, sagt der US-Amerikaner und Neo-Österreicher zu religion.ORF.at.

Darum gekämpft „zurückzukehren“

Das österreichische Konsulat in New York habe ihn bei dem bürokratischen Vorgang unterstützt. „Ich habe darum gekämpft, Erlösung zu finden. Ich habe darum gekämpft, in ein Land zurückzukehren, das uns – in dieser anderen Zeit – wie Abschaum ausgeliefert hat, in die Gaskammern und Brennöfen.“

Mit Hilfe des Jewish Welcome Service sei es ihm möglich geworden, eine Brücke der Versöhnung und Anerkennung zu bauen, sagt Turek, wobei ihm wichtig sei, dass diese Brücke von beiden Seiten erreichtet werde: seiner eigenen und der österreichischen. Für die Zukunft plant er, das Herkunftsland seiner Mutter besser kennen zu lernen und einige Zeit in Wien zu leben. Getragen von dem für ihn sehr stark religiös geprägten Prinzip „Shalom“ – Frieden.

„Restitution der Würde“

6.600 Personen waren es den jüngsten Erhebungen von Ende August zufolge, die aufgrund der Gesetzesänderung die österreichische Staatsbürgerschaft bekommen haben. Als einen „späten, aber sehr wichtigen Akt“ bezeichnet der Generalsekretär für jüdische Angelegenheiten der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG), Benjamin Nägele, diese Regelung gegenüber religion.ORF.at. Und als eine „Restitution der Würde“.

Man habe dadurch schon eine Handvoll neuer Gemeindemitglieder begrüßen können, so Nägele. Laut der Generalsekretärin des Jewish Welcome Service, Trauneck, sei die Suche nach den damals so gewaltsam zerstörten familiären Wurzeln für viele ein Thema und das Interesse an der Staatsbürgerschaft „groß“.

Willkommen in Wien

Nicht verwunderlich also, dass vier Jahrzehnte nachdem das Jewish Welcome Service von dem Shoah-Überlebenden Leon Zelman und dem damaligen Wiener Bürgermeister Leopold Gratz gegründet wurde, die Institution stets relevant geblieben ist. Etwa 4.000 Menschen sind seither im Rahmen von Besuchsprogrammen und Spezialprojekten nach Wien eingeladen worden – zu Beginn waren es auch Menschen, die in der NS-Zeit selbst vertrieben worden waren, später vor allem ihre Nachkommen.

Eine Woche dauern die Aufenthalte jeweils, Fixpunkte dabei sind unter anderem eine Stadtrundfahrt und Besuche in den Archiven der Israelitischen Kultusgemeinde. Dort suchen viele nach den Wurzeln ihrer Vorfahren. Der Welcome Service zeigt den Nachkommen auch die Synagoge in der Seitenstettengasse und besucht mit ihnen den jüdischen Friedhof.

„Menschliche Art und Weise“

„Diejenigen, die nicht streng koscher leben, schätzen auch die traditionellen Heurigenabende“, sagt Trauneck. Große Bedeutung hätten auch offizielle Empfänge im Rathaus und beim Bundespräsidenten.

IKG-Sekretär Nägele würdigt die Gedenk- und Erinnerungsarbeit, die vom Jewish Welcome Service geleistet wird. „Die Besuchsprogramme sind essenziell für die Vertriebenen und ihre Nachkommen.“ Dabei gehe es auch darum, wie das gemacht werde – und zwar „auf sehr menschliche Art und Weise“.