Ein kleines Mädchen vor dem Christbaum mit leuchtender Schachtel auf dem Schoß
Getty Images/Zukovic
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Weihnachten

Sehnsucht nach dem Christkind

Es war für viele Kinder und Jugendliche ein schweres Jahr. Während die Pandemie kein Ende zu nehmen scheint, ist mehr als sonst Trost notwendig. Im zweiten Jahr des Ausnahmezustands ist das Magische, das das Christkind umgibt, vielleicht wichtiger denn je. Hat es hierin dem Weihnachtsmann etwas voraus?

Es kam, um zu bleiben: Das ursprünglich „evangelische“, aus Deutschland gekommene Christkind machte im katholischen Österreich eine beispiellose Karriere. Für die evangelische Pfarrerin Julia Schnizlein ist die „Vorstellung, dass es sich dabei auch um ein Kind handelt, ein Kind, das die Geschenke bringt“, das Besondere am Christkind.

Das Bild vom Baby in der Krippe komme dem theologischen Kern von Weihnachten näher, so die Pfarrerin der Wiener Lutherischen Stadtkirche zu religion.ORF.at. Denn man dürfe nicht vergessen, erinnert sie: „Das Christkind gibt es.“ Das mag auch der sechsfache Vater Martin Luther so gesehen haben, als er um das Jahr 1535 an die Stelle des Geschenkebringers Nikolaus Christus, das Christkind, setzte.

„Schimmer von der Ewigkeit“

Schnizlein ortet eine „Sehnsucht nach einer guten, heilen Welt, in der die Kleinen wahrgenommen werden“. Als Pfarrerin ist sie überzeugt: „Die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies ist in uns drin. Gott hat uns fantasiebegabt geschaffen.“ Es gehe – auch beim Christkind – um den „Schimmer von der Ewigkeit, der ins Hier und Jetzt fällt“.

Die Pfarrerin der lutherischen Stadtkirche in Wien, Julia Schnizlein
Privat
Pfarrerin Julia Schnizlein: „Das Christkind gibt es.“

Ein Hier und Jetzt, das gerade für Kinder und junge Menschen seit vielen Monaten kein leichtes ist. „Kinder haben unter der Pandemie so zu leiden gehabt.“ Das Schöne am Christkind sei, dass man Weihnachten mit seiner Hilfe für Kinder besonders machen kann. Gerade deshalb solle man es auch nicht „zu Erziehungszwecken missbrauchen“ und behaupten, das Christkind beschenke nur „brave“ Menschen. Denn das wäre konträr zu dem, was das „erwachsene Christkind“ Jesus selbst vorgelebt hat, so die Pfarrerin.

Sie kann auch darin, Kindern die Weihnachtsbotschaft über das Christkind zu erzählen, keine „Lüge“ erkennen. Äußere ein Kind irgendwann einmal Zweifel, finde sie es aber falsch, an der Geschichte festzuhalten – vor allem, wenn es um den Aspekt des Geschenkebringers gehe.

Wenig Tamtam, niedrige Fallhöhe

In diesem heiklen Augenblick, wenn das Kind zum Beispiel in der Schule oder im Internet „aufgeklärt“ wurde und die Eltern zur Rede stelle, könne man es einfach fragen: „Was glaubst denn du?“ Freilich: Je größer das „Tamtam“, das man vorher macht, desto schwieriger werde das. „Je näher man beim Kern bleibt, nämlich dass ein Kind Gutes und Liebe bringt, desto niedriger die Fallhöhe.“

David Novakovits, katholischer Religionspädagoge und Universitätsassistent am Wiener Institut für Praktische Theologie, unterrichtet an einer Wiener Schule und hat seine Schülerinnen und Schüler für religion.ORF.at gefragt, was das Christkind für sie bedeutet beziehungsweise früher bedeutet hat.

Die Erfahrung: Jemand mag mich

Die Kinder und Jugendlichen hätten das „Magische im Rückblick als etwas sehr Wichtiges empfunden“, ebenso die gemeinsame Zeit als Familie, so Novakovits, und Weihnachten als eine „Verwandlung von Alltagszeit in Festzeit“. Eine Schülerin der Unterstufe habe von der Erfahrung gesprochen, „dass da jemand außer deinen Eltern ist, der dich mag und an dich denkt“.

Gemälde von Hugo van der Goes: Anbetung der Hirten (ca. 1480)
Public Domain/Wikipedia
Die Geburt eines Kindes ändert das gewohnte Gefüge (Hugo van der Goes: Anbetung der Hirten, ca. 1480)

„Wir machen heute zu oft die Erfahrung, dass die Welt in der Moderne zu einem ‚stahlharten Gehäuse‘ (nach einem Zitat des deutschen Soziologen Max Weber, Anm.) geworden ist, wo alles zwar funktioniert, aber die Welt die Menschen nicht mehr so anspricht.“ Das Christkind bringe die „Erfahrung, dass die Welt zu uns spricht und uns sagt: ‚Deine Existenz ist nicht egal.‘“

Im Prinzip sei doch die christliche Botschaft von Weihnachten genau das, „dass unser menschliches Dasein für jemanden wichtig ist, dass Gott selbst sogar in dieses Dasein tritt. Dass die Welt also nicht einfach ein stahlhartes Gehäuse ist, sondern etwas, mit dem man in Beziehung treten kann.“ Für Kinder ist das umso einfacher, wenn dieses Etwas, dieser Jemand ein anderes „Kind“ ist.

Die anarchische Kraft des Kindes

Im Christkind stecke auch für die Erwachsenen eine Botschaft, so der Religionspädagoge: „Es ist ein faszinierender Gedanke, den das Weihnachtsevangelium bringt und der die jüdische Messiaserwartung prägt: dass ein Kind die Welt erlösen wird.“ Angekündigt wurde das schon im Alten Testament: „Denn uns ist ein Kind geboren“ (Jes 9,5–6). Doch es gehe nicht darum, „Reinheit und Unschuld“ der Kindheit in den Vordergrund zu stellen, sondern um das Ambivalente, „die anarchische Kraft“ eines Kindes: Es stellt die Welt auf den Kopf.

David Novakovits, Institut für Praktische Theologie
Katholisch-Theologische Fakultät, Religionslehrer in Wien
Privat
Religionspädagoge Novakovits: „Kinder setzen die Welt neu zusammen.“

Genau diese Änderung des gewohnten Gefüges hat enormes kreatives Potenzial – das wusste auch schon die Bibel: „Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen. Wer so klein sein kann wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Größte.“ (Mt, 18,3-4)

Das „Paradox“ mit der Geborgenheit

Hier ortet Novakovits durchaus „auch ein gewisses Paradox, das Weihnachtsfest als Fest der Geborgenheit zu feiern“: Der Einbruch Gottes in die Welt der Menschen durch Jesus als Messias habe die Umgestaltung der damaligen Welt verursacht, sodass „teilweise kein Stein auf dem anderen“ blieb.

So wie Kinder das eben auch tun: „Kinder setzen diese Welt, die schon da ist, neu zusammen.“ Die Geburt eines Kindes – und zwar jedes Kindes – werde „zum Versprechen von etwas Großem“. Wenn sich Erwachsene mit dem Fest auseinandersetzen, sollten sie die Kinder auch zu Wort kommen lassen, ihren Gefühlen Raum geben, ihnen zuhören, so der Pädagoge. „Viel Fingerspitzengefühl“ empfiehlt auch er für den Tag der „Aufdeckung.“ Zu sagen: „Das Christkind gibt es nicht“, hält er für falsch.

Ob paradox oder nicht: Weihnachten wird als Fest der Geborgenheit, des Wiedererkennens von Vertrautem empfunden. Zu Weihnachten ist die Kirche von Pfarrerin Schnizlein voll. Der Heilige Abend wird mit Kindermesse und Krippenspiel gefeiert. Auch Fragen nach dem Christkind beantwortet sie „kindgerecht“. Sie sieht in ihrer Gemeinde eine „Sehnsucht nach dem Mystischen, aber auch nach gewohnten Ritualen, wie die vertrauten Texte aus der Bibel und die alten Lieder, die schon vor 200 Jahren gesungen wurden“. Auf eines ist Verlass: „Weihnachten kommt auf jeden Fall.“