Ein Priester hält einen Rosenkranz in der Hand
APA/dpa/Jochen Lübke
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Italien

Ein Flüchtlingsdeal mit der Kirche

Nicht erst seit der Flüchtlingskrise 2015 ist die Aufnahme von Geflüchteten in der EU ein Streitthema. Illegale Migration wolle man stoppen, hieß es oft, legale und sichere Fluchtwege schuf man aber kaum. In Italien verhandelten Kirchen einen Deal mit der Regierung, um Geflüchtete selbst ins Land holen zu dürfen. Das Programm soll Schule machen.

Ermutigen, ermahnen, appellieren: All das ist man in der Asylfrage in den vergangenen Jahren von Kirchen gewohnt gewesen. Dass Kirchen die EU-Gesetzgebung studieren, politische Maßnahmen ausarbeiten und mit der Spitzenpolitik darüber in Verhandlungen treten, hat allerdings Seltenheitswert.

In Italien hat die katholische Gemeinschaft Sant’Egidio gemeinsam mit den evangelischen Kirchen genau das gemacht, um ein humanitäres Aufnahmeprogramm für Flüchtlinge durchzusetzen. „Wir haben ein Jahr lang verhandelt“, sagt Cesare Zucconi, Generalsekretär von Sant’Egidio in Rom, im Gespräch mit religion.ORF.at.

Keine Kosten für den Staat

Das EU-Recht erlaube es Staaten, national gültige humanitäre Visa auszustellen, doch das sei in Italien praktisch nie angewandt worden. Der Regierung unterbreiteten die Kirchen das Angebot: „Wir übernehmen alles. Der Staat hat keine Kosten“, erzählt Zucconi. Von der Identifizierung der vulnerablen Personen im Ausland, der Organisation der Einreise, bis zur Unterbringung und der vollständigen Integration in Italien – all das wird von den kirchlichen Einrichtungen Sant’Egido, der Union der Evangelischen Kirchen in Italien und der Waldenser-Tafel organisiert.

Der Staat müsse nur die humanitären Visa zur Verfügung stellen, vor der Einreise Identitätschecks machen und in Italien die Asylverfahren durchführen. Am 15. Dezember 2015 unterzeichneten die Kirchen und die italienische Regierung ein erstes Abkommen, weitere sollten folgen. Die Politiker hätten schließlich eingesehen, dass der Staat gemeinsam mit der Zivilgesellschaft eine legale, sichere, geregelte und kontrollierte Einreise von Flüchtlingen organisieren müsse, um die vielen tragischen Todesfälle im Mittelmeer zu verhindern, sagt Zucconi.

Frauen trauern um die Menschen, die beim Schiffsunglück vor Lampedusa gestorben sind
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Trauer über die 2013 beim Schiffsunglück vor Lampedusa Verstorbenen, das Unglück führte zur Idee der humanitären Korridore

Mare Mortuum, Totes Meer

Entstanden sei die Idee sogenannte humanitäre Korridore nach Italien zu organisieren „aus dem Entsetzen über die vielen Toten im Mittelmeer“. Im Oktober 2013 starben bei einem Bootsunglück vor Lampedusa 366 Menschen, die aus Somalia und Eritrea gekommen waren.

„Und das ist nur eine Geschichte von vielen“, sagt Zucconi. Dass das Mittelmeer zu einem Mare Mortuum, also einem Toten Meer, geworden ist, wie Papst Franziskus bereits anklagte, wollte man nicht akzeptieren.

„Italienischer Weg“ als Vorbild

Im Frühjahr 2016 kamen die ersten Geflüchteten über den humanitären Korridor nach Italien – nicht in desolaten Booten, sondern in einem Flugzeug. Mittlerweile, sagt Zucconi, sei die Regierung „stolz auf diesen italienischen Weg“. Er soll Schule machen. Zucconi hofft, dass der italienische ein „europäischer Weg“ wird. In Frankreich und Belgien verhandelte Sant’Egidio in den vergangenen Jahren jedenfalls bereits ähnliche Abkommen.

Caesare Zucconi
Sant’Egidio
Generalsekretär von Sant’Egidio Caesare Zucconi

Erst vor wenigen Tagen verlautbarte die katholische Gemeinschaft in Belgien, dass man mit dem Staatssekretariat für Asyl und Migration eine Vereinbarung über die Aufnahme von 250 Flüchtlingen getroffen habe. Neben Sant’Egidio finanzieren auch andere Organisationen und Gemeinschaften verschiedener Religionen das Programm.

Bisher rund 5.000 Menschen

Etwas weniger als 5.000 Menschen, mehrheitlich aus Syrien und Ostafrika, seien auf diesem Weg bereits sicher in die EU eingereist. Freiwillige der Organisationen reisen in die Staaten, in denen sich Flüchtlinge aufhalten – etwa in Flüchtlingslagern – und nehmen Kontakt mit den Menschen vor Ort auf und suchen und finden so jene, die gefährdet sind und Asyl besonders dringend benötigen. „Wir schauen auf vulnerable, verletzte, kranke Menschen“, sagt Zucconi. Keine Rolle spiele die Religionszugehörigkeit der Geflüchteten.

Kürzlich verpflichtete sich Italien zur Aufnahme von 1.200 Afghaninnen und Afghanen in den kommenden zwei Jahren – ein Teil werde über den humanitären Korridor kommen, so Zucconi. Ein anderer Teil über das klassische Resettlement (Umsiedelung) von UNHCR. Alle Initiativen, die es Flüchtlingen gestatten, über sichere Wege Schutz zu finden, seien „begrüßenswert“, sagt die Sprecherin von UNHCR Österreich, Ruth Schöffl, im Gespräch mit religon.ORF.at.

Syrische Flüchtlinge kommen am Flughafen in Rom an – über das humanitäre Aufnahmeprogramm von Sant’Egidio in Italien
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Syrische Flüchtlinge kommen 2019 am Flughafen in Rom an

Experte zieht gemischte Bilanz

Der Bedarf werde immer größer, „aber die Zahlen sind immer geringer geworden, auch wegen Corona“, sagt Schöffl. Bei über 1.4 Millionen Menschen weltweit, die in diesem Jahr „dringend Resettlement brauchen“, konnten nur 29.000 in andere Länder umgesiedelt werden. Die USA, Kanada, Schweden und Deutschland seien hier sehr aktiv. Allerdings würden humanitäre Aufnahmeprogramme, so Schöffl, Staaten nicht von der Verpflichtung entbinden, Flüchtlinge aufzunehmen und ein Asylverfahren zu gewähren, wenn sie auf eigenem Weg gekommen sind.

Der Asylexperte vom Ludwig Boltzmann Institut für Grund- und Menschenrechte, Adel-Naim Reyhani, bezeichnet im Interview mit religion.ORF.at das humanitäre Aufnahmeprogramm der italienischen Kirchen als beachtliche Entwicklung. Gleichzeitig müsse man die Zahl der rund 5.000 Personen, die seit 2016 auf diesem Weg aufgenommen wurden, in Relation setzen zu den zehn bis 20.000 Menschen, die jährlich auf Initiative Italiens von der libyschen Küstenwache auf dem Mittelmeer „abgefangen und in libysche Internierungslager verbracht werden“.

Kooperation mit Libyen problematisch

Italien kooperiere seit 2017 noch enger mit Libyen, habe etwa „die Kapazität der Küstenwache aufgebaut, Schiffe gesponsert“ – pflege also enge Bande mit einem Land, das „kein funktionierender Staat ist“, in dem die Bedingungen für Flüchtlinge „nicht einmal ansatzweise Menschenrechtsstandards entsprechen“ und es „regelmäßig zu Folter und Menschenhandel kommt“, sagt der Menschenrechtsexperte.

Da Rückführungen nach Libyen, die früher direkt von Italien durchgeführt wurden, angesichts der katastrophalen Lage gestoppt wurden, versuche Italien der rechtlichen Verantwortung für den Schutz von Flüchtlingen auf diesem problematischen Umweg zu entgehen.

„Vorbildwirkung“ für EU

Unabhängig davon sollte der gut funktionierende humanitäre Korridor Vorbildwirkung für andere Staaten in Europa haben, sagt Reyhani. Es gäbe in der EU mehrere Länder, in denen größere Teile der Zivilgesellschaft zwar willens seien, die lokale Aufnahme von Flüchtlingen zu ermöglichen, aber keine Kooperation mit dem Staat zustande kommt.

Syrische Flüchtlinge kommen am Flughafen in Rom an – über das humanitäre Aufnahmeprogramm von Sant’Egidio in Italien
APA/AFP/Andreas Solaro
Syrische Flüchtlinge wurden vom Presidenten von Sant’Egidio, Marco Impagliazzo, persönlich in Italien willkommen geheißen

„Kirchen müssen verhandeln“

„Man muss mit den Regierungen verhandeln. Es muss ein Abkommen gemacht werden“, sagt der Generalsekretär von Sant’Egidio. Leicht sei es nicht und natürlich gründe sich so eine Vereinbarung auf Vertrauen und Wertschätzung. Die italienische Regierung, egal wie sie zusammengesetzt sei, schätze die Arbeit der beteiligten Organisationen.

Vorteile eines solchen Abkommens gäbe es für den Staat und die Flüchtlinge: Denn die Menschen würden durch das Netz an Helferinnen und Helfern in den verschiedensten Gemeinden, viel rascher in Gesellschaft und Arbeitsmarkt integriert. Das Potenzial würden Regierende oft nicht sehen können oder wollen. Kirchen und die Zivilgesellschaft in anderen europäischen Ländern sollten, wenn es nach Zucconi geht, auf Verhandlungen mit der Regierung setzen. „Da muss man beharren“, sagt er. Appelle dürften nicht reichen.