Bunte Socken in einer Schublade
Getty Images/EyeEm/Rebecca Allchurch
Getty Images/EyeEm/Rebecca Allchurch
Japan

Shinto und der Geist in der Sockenschublade

Seit die japanische Aufräumberaterin und Bestsellerautorin Marie Kondo Freude am spirituellen Ausmisten „entfacht“, ist, wie es scheint, ein Hauch von Shinto in westliche Haushalte eingezogen. Doch so einfach ist es nicht, sagt der Japanologe Bernhard Scheid im Gespräch mit religion.ORF.at.

Als 2019 die Netflix-Serie „Aufräumen mit Marie Kondo“ ausgestrahlt wurde, überschlugen sich Medien damit, auf die „Shinto-Wurzeln“ der Unternehmerin Kondo hinzuweisen: Hier sei der Geist des Shinto (auch: Shintoismus) am Werk – nicht ohne mitgelieferte Warnung, es bestehe die Gefahr, dass nur Teile der Shinto-Lehre herausgelöst würden beziehungsweise diese im Westen missverstanden werde.

Auch in der Neuauflage „Sparking Joy“ („Freude entfachen“) zeigt Kondo wieder, wie man Socken und T-Shirts richtig zusammenlegt, Gewand ausmistet und fachgerecht die Garage entrümpelt. Auf die Frage, wie viel Shinto hier zu finden ist, weist Experte Scheid darauf hin, dass eine als „typisch japanisch“ betrachtete „Bedachtsamkeit auf Ordnung und Reinheit“ gerne dem Shinto zugeschrieben wird. „Das ist für mich ein Stereotyp, das natürlich sehr stark verbreitet, aber zu ungenau und zu ahistorisch ist.“

Zwei dominierende Religionen

Versuche, alles Japanische dem Shinto zuzuschreiben, würden – „ob bewusst oder nicht“ – sehr oft „die Aufgabe erfüllen, die nationalistische Rolle des Shinto, die mit der Bildung des Nationalstaats zu tun hat, in den Hintergrund zu drängen“, sagte Scheid. Reinigungsrituale etwa kennt schließlich auch die zweite in Japan dominierende Religion: der Buddhismus. Eine Mehrheit der Japanerinnen und Japaner gehört beiden Religionen gleichzeitig an.

Shinto-Priester bei einer zeremoniellen Auto-Reinigung
Shinto-Priester bei einer Auto-Reinigungszeremonie

Viele Elemente im Shinto hätten eigentlich buddhistische Wurzeln, einiges sei in den vergangenen Jahrhunderten auch bewusst „archaisiert“ worden, so der Japanologe – diese Vermischung macht es nicht leicht, die beiden Traditionen voneinander zu trennen.

„Shinto ist im Wesentlichen das, was sich in Schreinen abspielt“, so Scheid. Hier werden Gebete an Göttinnen und Götter gerichtet und Opfergaben dargebracht. Jede Familie sucht einen bestimmten Schrein auf. Die prägnanten Torii, schlichte, stilisierte Tore aus zwei Pfosten und zwei Querbalken, markieren jeweils einen Schrein.

Eine „diesseitige Religion“

In Sachen Religion gibt es in Japan eine Art „Arbeitsteilung“: Shinto sei eine sehr „diesseitige“ Religion, er verfüge, für eine Religion sehr ungewöhnlich, zum Beispiel über keine Todes- und Jenseitsvorstellungen, erklärt Scheid. „Shinto überlässt grob gesagt alles, was mit dem Tod zu tun hat, dem Buddhismus.“ Der Tod gilt im Shinto als verunreinigend.

Junge Frauen machen Selfies unter den Torii des Fushimi-Inari-Schreins in Kioto, Japan
APA/AFP/Behrouz Mehri
„Eine sehr diesseitige Religion“: Junge Frauen unter den Torii des Fushimi-Inari-Schreins in Kioto, Japan

Im Shinto dominieren hingegen Feste: Das Neujahrsfest Shogatsu am 1. Jänner ist eines der wichtigsten Feste in Japan. Das Shichigosan-Fest im November ist kleinen Kindern gewidmet, die in traditionellen Kimonos den Familienschrein besuchen. Viele Hochzeiten werden mit einer Shinto-Zeremonie gefeiert. Man bittet Gottheiten um Hilfe, etwa vor wichtigen Prüfungen.

Ende des 19. Jahrhunderts, in der Zeit der Meiji-„Restauration“ (1867/68), „als der japanische Nationalstaat quasi auf dem Reißbrett entworfen wurde“, sei vorgesehen gewesen, „Shinto zur Staatsreligion zu machen“, so der Japanologe. Damals gab es auch Shinto-Begräbnisse – nach nur 20 Jahren habe man gemerkt: „Das funktioniert nicht.“

Religiöse „Arbeitsteilung“

Die historische „Arbeitsteilung“ wurde reaktiviert, „gleichzeitig haben sich die Buddhisten auf das neue Regime eingestellt, entsprechende Angebote gemacht und in der Folge einen modernisierten Buddhismus erzeugt“. In einer Art „Kehrtwende“ wurden nun Shinto-Begräbnisse sogar verboten.

Shinto und Buddhismus

Das Wort „Shinto“ bedeutet „Weg der Götter“. Gemeinsam mit dem Buddhismus ist Shinto die wichtigste Religion in Japan. Shinto prägt schon lange die japanische Kultur, der Buddhismus wurde ab dem 6. Jahrhundert eingeführt. Beide koexistieren und ergänzen einander.

Daraus sei dann „eine Ad-hoc-Definition wiederum seitens der Machthaber entstanden, Shinto sei gar keine Religion, sondern nur ein staatsbürgerlicher Kult, das heißt, bei Schreinen sollte in erster Linie der Tenno (der japanische Kaiser, Anm.) verehrt werden“. Dies geschah um den Preis, dass aufgegeben wurde, sämtliche religiösen Bereiche des Lebens shintoistisch abdecken zu wollen.

Tempel und Schrein

Historisch waren Schreine in den meisten Fällen in die Administration eines buddhistischen Tempels eingebunden, aber mit einer gewissen eigenen Autonomie. Das Schreinpriestertum war oft erblich.

Heute sind Schreine eigene religiöse Körperschaften, die sich auf ein traditionelles Repertoire stützen können, aber die Arbeitsteilung, die sich über die Jahrhunderte herausgebildet hat, respektieren und etwa Begräbnisse dem Buddhismus überlassen.

Shinto-Reinigungsritual am Kanda-Myojin-Schrein in Tokio, Japan
APA/AFP/Philip Fong
Reinigungsritual zu Neujahr am Kanda-Myojin-Schrein in Tokio, Japan

Versuche, aus dem Shinto ein „gesamtreligiöses System“ zu machen, würden heute als Neureligionen oder als Sekten qualifiziert. Sie haben auch Begräbnisrituale und Messen. Sie stellten eine Minderheit dar, die sich auch buddhistischer und übrigens auch christlicher Techniken bedient, „um den Shinto endlich einmal auszuweiten zu etwas, was für sich allein stehen kann“, so Scheid.

Paläste für die Götter

„Die shintoistische Tradition besteht im Grunde aus Herrschaftsritualen, ausgehend vom kaiserlichen Hof, die gar nicht den Anspruch hatten, sämtliche religiösen Bereiche abzudecken.“ Der Schreinkult entwickelte sich aus einem sehr ausgeprägten Herrschaftskult heraus, der Paläste für die lokalen Gottheiten gebraucht hat – die Schreine. Gottheiten konnten und können sowohl in ganz Japan verehrt werden als auch nur für einen Ort relevant sein – „vergleichbar dem Heiligenkult in Europa“.

Japanologe Bernhard Schmid
privat
Der Wiener Japanologe Bernhard Scheid

So ist etwa die japanweit verehrte Sonnengöttin Amaterasu gleichzeitig die Ahnengöttin des Tenno-Hauses und somit sowohl lokal als auch universal von Bedeutung. „Shinto“ ist übrigens ein Wort chinesischen Ursprungs. Das japanische Wort Kami kann Göttin oder Gott (auch der christliche Gott wird Kami genannt) heißen, es kann aber auch Geist oder (verstorbene) Seele bedeuten.

Außerdem können laut dem Japanologen Scheid „auch Menschen, ebenso wie Tiere, Pflanzen, das Meer und die Berge, als kami bezeichnet werden, sofern sie eine seltene, ungewöhnliche oder überlegene Kraft besitzen“.

„Empathisches Verhältnis zu Dingen“

Das führt zurück zu Marie Kondo: Die Vorstellung „beseelter Objekte“ wie die Bücher und abgetragenen Sachen, die vor ihren Augen keine Gnade mehr finden, aber doch mit Respekt behandelt und „verabschiedet“ werden sollten, sei auch ohne Weiteres kompatibel mit buddhistischen Theologien von der Beseeltheit von Pflanzen, Tieren und auch Dingen.

„Ein empathisches Verhältnis zu kleinen, scheinbar unbedeutenden Dingen zu haben kann auf dem Weg zur buddhistischen Erleuchtung eigentlich nur gut sein.“ Es sei grundsätzlich schwierig, Shinto- und buddhistische Traditionen zu trennen, so Scheid: „Shinto als Tradition ist rhizomartig überall drin.“ Auch der von der Aufräumexpertin praktizierte Mix aus spirituellen Übungen sei typisch und kein „reiner“ Shinto – und gerade das ist sehr japanisch. „Wahrscheinlich ist ihr die Frage ‚welche Religion?‘ – so wie fast allen Japanern – völlig egal.“