Gutachten

Missbrauch: Theologe für „Gedenktag der Buße“

Der Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück hat in einem „Presse“-Gastbeitrag am Mittwoch einen „Gedenktag der Buße“ gefordert. Es brauche die Übernahme persönlicher Verantwortung und einen liturgischen Gedenktag.

In einer „kreativen Fortschreibung zu den Großen Vergebungsbitten im Jahr 2000“ könnte der ins Kreuzfeuer der Kritik geratene Benedikt XVI. Papst Franziskus vorschlagen, „einen Gedenktag der Buße im liturgischen Kalender einzuführen“. So könnten Reue, öffentliches Bekenntnis, „aber auch die Selbstverpflichtung zu praktischen Maßnahmen der Wiedergutmachung (satisfactio) in das lebendige Gedächtnis der Kirche dauerhaft eingeschrieben werden“. Der Beitrag wurde auch auf „katholisch.at“ veröffentlicht.

Mit dem nunmehrigen Gutachten habe schließlich der Skandal um sexuelle Gewalt und systemische Vertuschung in der katholischen Kirche „eine neue Stufe erreicht“ – eine Stufe, auf der Worte allein nicht mehr ausreichen würden: „Die Betroffenheitsbekundungen vieler Bischöfe wirken inzwischen abgenutzt“. Es brauche dagegen die Übernahme persönlicher Verantwortung, aber ebenso „symbolische Zeichenhandlungen“, die der Tiefe des Skandals gerecht würden.

Durch einen solchen, vorgeschlagenen liturgischen Gedenktag der Buße würden laut Tück "die Bemühungen um Aufarbeitung, Entschädigung und Prävention (…) verstetigt. Dabei wäre vor allem der Blick auf „die wahren Verlierer der Misere“ zu lenken, „die Betroffenen mit ihren Traumata“ – ansonsten stünde die Kirche in der Gefahr, „letztlich Christus (zu) verraten, der sich mit den Leidenden rückhaltlos identifiziert hat.“

Die Verantwortung Benedikts XVI.

Der Theologe ortet insgesamt drei Ebenen des Skandals: Zum einen die Ebene des vielfachen Missbrauchs durch Kleriker und kirchliche Bedienstete insgesamt. Zwar komme es auch in Familien, Sportvereinen und Heimen zu Missbrauch, „aber die Fallhöhe ist größer, wenn Priester oder kirchliche Bedienstete, die für das Evangelium einstehen, sich an Schutzbefohlenen vergehen“.

Die zweite Stufe bestehe in der Verantwortung der Bischöfe, Generalvikare und Personalverantwortlichen, die daran mitgewirkt haben, die Taten über Jahrzehnte zu vertuschen. Der Grund liege gleichermaßen in „Klerikalismus und Institutionenschutz“, aber auch in Defiziten im kirchlichen Strafrecht, in mangelhafter Aktenführung und einer „falsch verstandenen Theologie der Barmherzigkeit, die Milde mit den Tätern walten lässt, ohne sich um Gerechtigkeit für die Opfer zu kümmern.“

„Welle der Empörung“

Die dritte Stufe zeige sich bei der Frage nach der Verantwortung der Kardinäle Reinhard Marx, Friedrich Wetter – und speziell Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. Die „Welle der Empörung“, die gerade ihn aktuell trifft, sei im Blick auf die Errungenschaften, die ihm sowohl als Präfekt der Glaubenskongregation als auch als Papst in der Bekämpfung des Missbrauchs zukommen, unangemessen, so Tück.

So erinnerte der Theologe etwa daran, dass es Ratzinger war, der noch während des Pontifikats von Johannes Paul II. (1978-2005) für einen „Paradigmenwechsel vom Täter- zum Opferschutz eingetreten“ sei – und etwa als Papst Benedikt XVI. (2005-2013) den Gründer der Legionäre Christi, Marcial Maciel, „seiner kriminellen Machenschaften überführt und kirchenrechtlich geahndet“ hat. Zudem habe er den Umgang mit Missbrauchstätern verschärft, „hunderte straffällig gewordene Priester und vereinzelt selbst Bischöfe vom Dienst suspendiert“ und als erster Papst überhaupt sich mit Missbrauchsopfern getroffen.

Dies bedeute nicht, den emeritierten Papst aus der Verantwortung zu entlassen, schließlich müsse man sich angesichts der 82-seitigen Stellungnahme und der Selbstkorrektur Benedikts fragen, wer ihm da „die Feder geführt“ habe: „Reicht es in der Stunde einer so massiven Krise aus, sich auf Angaben zur persönlichen Rechtfertigung zu beschränken? Müsste hier nicht deutlicher auch die Mitverantwortung für das systemische Versagen der Kirche übernommen werden?“

Müller: „Vermisse das mitmenschliche Gespür“

In Bezug auf die Ergebnisse des Münchner Missbrauchsgutachtens verwies die Wiener Theologin Sigrid Müller darauf, dass in der Vergangenheit bei Missbrauch innerhalb der Kirche nur „nach innen“ und überhaupt nicht an die Menschen gedacht wurde. Es sei nicht darauf geschaut worden, „was das mit den Menschen macht, die sexuell missbraucht werden“. „Das ist erschütternd“, so die Leiterin des Instituts für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Wien im Interview mit der Kooperationsredaktion der Kirchenzeitungen (aktuelle Ausgabe).

Bei manchen Aussagen des emeritierten Papstes Benedikt XVI. vermisse sie „das psychologische, mitmenschliche Gespür“, etwa bei der Meinung, dass das Masturbieren eines Pfarrers vor „vorpubertierenden Mädchen“ kein Missbrauch sei. Damals sei man „nicht von der Verletzung der Gefühle, der Persönlichkeit und der Menschenwürde ausgegangen, sondern von definierbaren Handlungen, die man einteilen konnte in neutrale oder in moralisch schlechte oder moralisch gute. Das engt den Blick ein“, so Müller.

Heute sehe sie die Kirche aber auf dem richtigen Weg in Bezug auf Transparenz und die Missbrauchs-Aufarbeitung. „Die Tatsache, dass die Kirche solche Gutachten in Auftrag gibt, ist ein Zeichen des Aufklärungswillens“, zeigte sich Müller überzeugt, das gelte es auch zu honorieren.

Vatikankenner: „Weckruf für Weltkirche“

Als „Weckruf für die Weltkirche“ hat der Vatikanist Marco Politi das Münchner Missbrauchsgutachten bezeichnet. Die Kirche in Deutschland habe schon vor Jahren angefangen, diese „dunkle Vergangenheit“ aufzuarbeiten, sagte der Journalist und Buchautor, dem Südtiroler „Katholischen Sonntagsblatt“ (Mittwoch). Es sei „höchste Zeit“, dass dies auch in Italien und in anderen Ländern geschehe.

Zur Kritik an Benedikt XVI. sagte Politi, es brauche nun „eine vollständige Antwort“ des ehemaligen Papstes auf die Anschuldigungen hinsichtlich seines Umgangs mit Missbrauchsfällen während seiner Zeit an der Spitze der Erzdiözese München. Dass Joseph Ratzinger als Erzbischof damals von Verurteilungen von Priestern nicht informiert wurde, sei „schwer verständlich“.

Als Papst habe Benedikt XVI. 400 Priester entfernt, die wegen Missbrauchs angeklagt worden sind; das „entschiedene Engagement“ Benedikts gegen Missbrauch sei „eines der großen Verdienste seines Pontifikats“, so Politi. Dass allerdings dem des systematischen Missbrauchs für schuldig befundenen Legionäre-Christi-Gründer Marcial Maciel (1920-2008) kein kanonischer Prozess gemacht wurde, habe bedeutet, „dass die vielen, vielen Opfer keine Gerechtigkeit bekommen haben“.