Die Erschaffung Adams (ca. 1512), Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle in Rom, Michelangelo Buanarotti
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Buchrezension

Wie Gott sein Körper abhandenkam

Die moderne Vorstellung von Gott ist die eines unsichtbaren, körperlosen Wesens, das sich nur indirekt an die Menschen wendet. Die britische Bibelforscherin Francesca Stavrakopoulou skizziert in ihrem Buch „Gott. Eine Anatomie“ das Bild einer sehr greifbaren Gottheit.

Gott „hatte einen Kopf, Haare und ein Gesicht mit Augen, Ohren, einer Nase und einem Mund. Er hatte Arme, Hände, Beine und Füße, eine Brust und einen Rücken. Er war ausgestattet mit einem Herzen, einer Zunge, Zähnen und Genitalien.“ So stellt Stavrakopoulou, Professorin für hebräische Bibelgeschichte und antike Religionen an der Universität von Exeter, England, den Gott der Hebräischen Bibel (auch bekannt als Altes Testament bzw. Tanach) vor.

Die Rede ist von Jahwe, Gott der Israeliten. Seiner „Abstammung“ aus dem antiken Pantheon der altorientalischen Welt widmet die Bibelhistorikerin viel Platz, neben vielen faszinierenden Geschichten über die mächtigen Göttinnen und Götter Mesopotamiens, der Assyrer, Sumerer und anderer antiker Völker.

Babylonische Gottheit, Steinrelief, bekannt als „Burney relief“ or „Queen of the Night relief“, 1792–1750 v. Chr., British Museum
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Sehr leiblich: Gottheiten des alten Mesopotamien (babylonische Gottheit, Steinrelief, bekannt als „Burney relief“ or „Queen of the Night relief“, 1792–1750 v. Chr., British Museum)

Hier hat auch Jahwe seinen Ursprung, und wenn man etwas über diese Gottheiten sagen kann, dann dass sie – ähnlich wie die griechische Götterwelt – sehr eindeutig Körper hatten. Göttinnen und Götter wie der Wettergott Baal, die mächtige Ischtar, die Kriegergöttin Anat und der Göttervater El, der später Jahwe seinen Namen „lieh“, kämpften, zeugten Kinder, zertrampelten Feinde und hatten im Übrigen eine „rötlich strahlende Haut“, so die Autorin. Zwar waren sie Götter, doch waren ihnen menschliche Gefühle und Wünsche keineswegs fremd.

„Hörte Musik und mochte Spaziergänge“

Auch Jawhe „mochte gern Abendspaziergänge und herzhafte Mahlzeiten, er hörte Musik, schrieb Bücher und stellte Listen auf. Er war ein Gott, der nicht nur sprach, er lachte auch, schrie laut, weinte und führte Selbstgespräche. Er war ein Gott, der sich verliebte und raufte, ein Gott, der sich mit seinen Anhängern zankte und mit seinen Feinden kämpfte, ein Gott, der Freundschaften schloss, Kinder großzog, sich Ehefrauen nahm und Sex hatte.“

Gottes Körper „zerlegt“

Diese Darstellungen, betont die Autorin, stammten nicht aus irgendwelchen apokryphen Texten, sondern aus der Bibel selbst. Stavrakopoulou handelt anhand des buchstäblich in „Teile“ (so heißen die Kapitel) zerlegten Körpers Gottes – von „Füße und Beine“ bis hin zu „Kopf“ – aber nicht nur göttliche, sondern auch menschliche antike Lebenswelten ab. Interessant etwa sind die enorme, auch kultische Bedeutung von Füßen in der Vorstellungswelt antiker Völker und die Tatsache, dass das Herz, nicht der Kopf, als Sitz des Denkens galt.

JHWH

Die richtige Aussprache des Namens „Jahwe“ für den Gott Israels ist unbekannt – es sind nur die Konsonanten „JHWH“, das Tetragramm, überliefert. Gängig ist heute Jahwe. Im Judentum wird der Name aufgrund des dritten Gebots (Ex 20,7) ganz vermieden.

Der biblische Gott zeigte sich seinen Gläubigen oft und gern: Moses darf die Gestalt des Herrn sehen (Num 12,8), was sein eigenes Äußeres verändert. Jakob ringt sogar mit (einem) Gott (Gen 32,23ff), und an vielen weiteren Stellen der Bibel zeigt sich die Leiblichkeit Jahwes, so etwa im Buch Jesaja: „So spricht der Herr: Der Himmel ist mein Thron/und die Erde der Schemel für meine Füße.“ (Jes 66,1).

Spannend liest sich eine Debatte des frühen rabbinischen Judentums darüber, ob Gott selbst gebetet habe und ob er dabei entsprechend gekleidet gewesen sei – was ja ebenfalls einen Körper voraussetzt. Im Lauf der Jahrhunderte änderte sich das Bild von der Körperlichkeit Gottes.

Frühchristliche Gelehrte in Nöten

Die alten Schriften, „in denen Gott oft in einer verstörend körperlichen Begrifflichkeit dargestellt wurde“, hätten Jahrhunderte später die „Architekten der frühchristlichen Lehre“ vor große Probleme gestellt, so Stavrakopoulou: „In ihrer intellektuellen Welt war Christus die einzige Inkarnation Gottes.“

Die Verse in den alten heiligen Schriften, die sich auf Gottes Körper bezogen, „wurden geglättet, unterdrückt oder mit einem neuen Deutungsrahmen und einigem philosophischen Geschick überdeckt“. Eine „Lieblingstaktik“ frühchristlicher Theologen habe darin bestanden, „einfach alle biblischen Hinweise auf Gottes Körper auf das Symbolische zu reduzieren“ und Verweise auf Körperteile als metaphorisch und allegorisch zu verstehen. Dass das ursprünglich nicht so gemeint war, belegt Stavrakopoulou anhand vieler Beispiele.

Buchcover „Gott. Eine Anatomie. Der göttliche Körper im Wandel der Zeit“ von Francesca Stavrakopoulou
Piper Verlag

Francesca Stavrakopoulou: Gott. Eine Anatomie. Der göttliche Körper im Wandel der Zeit. Piper, 656 Seiten, 32 Euro.

Entsetzen über „kosmischen Riesen“

Doch die gewöhnlichen Gläubigen kamen nicht immer bei theologischen Debatten mit, und so zeigte sich im dritten Jahrhundert n. Chr. der christliche Exeget und Theologe Origenes entsetzt über Menschen, „die sich Gott immer noch als einen kosmischen Riesen vorstellten“, so die Autorin. Ebendiese Riesenhaftigkeit wird aber in der Bibel häufig anschaulich geschildert

Irgendwann alterte Jahwe offenbar: Der Prophet Daniel schildert eine Vision Gottes: „Ich sah immer noch hin; da wurden Throne aufgestellt und ein Hochbetagter nahm Platz. Sein Gewand war weiß wie Schnee, sein Haar wie reine Wolle.“ (Dan 7,9)

Der gealterte Gott

Das Christentum hatte und hat mit dem Menschensohn Jesus Christus, dessen Körperlichkeit logisch erschien, seit jeher eine „Gottheit zum Angreifen“ – dennoch wurde auch „Gott Vater“ oft und gerne dargestellt. Mit grauen Locken und Rauschebart, aber muskulös und dynamisch malte ihn Michelangelo bei der Erschaffung Adams im Zentrum der Sixtinischen Kapelle in Rom.

Die frühen jüdischen Gelehrten hatten einiges damit zu tun, die scheinbar widersprüchlichen Berichte über das Aussehen Gottes zu erklären: „Als er darum kämpfte, sein Volk von den Ägyptern zu befreien, war er ein jugendlicher Krieger; als er es am Sinai in der Thora unterwies, war er ein weiser alter Lehrer“, schreibt Stavrakopoulou. In einer Sammlung auslegender Texte, die zwischen dem dritten und dem fünften Jahrhundert erschienen, heißt es, Gott sei „imstande, nach Belieben sein Aussehen zu verändern“.

Gott, „ein unergründliches Mysterium“

„Die aufkommende theologische Betonung der Verborgenheit Gottes sollte am Ende der abstrakten, körperlosen Gottheit im Judentum und im Christentum den Weg bereiten“, so die Autorin – hin zu einem Gott, der „nur noch ein wundersames, unergründliches Mysterium war“. Seit der Aufklärung hätten westliche Intellektuelle Gott „leblos gemacht“ und „auf ein bloßes Phantom reduziert, heraufbeschworen von der menschlichen Vorstellungskraft“, beklagt die Bibelexpertin.

„Gott. Eine Anatomie“ ist gut gegliedert und schnörkellos und verständlich erklärt, wenn auch die Fülle an Informationen die Leserin stellenweise überfordern kann. Einige Sachverhalte hätten vielleicht nicht ganz so viele Details gebraucht – aber der überschäumende, gut gelaunte Ton und die ungeheure Belesenheit der Autorin sind mitreißend, und man staunt, wie witzig ein Buch über Gott sein kann.