Kreuz auf dem Kagraner Friedhof
APA/Günter R. Artinger
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Theodizee

Gott und das Böse in der Welt

Wenn Christinnen und Christen am Karfreitag des Todes von Jesus Christus gedenken, dann stehen Schuld und Leid im Mittelpunkt. Schmerz, Ungerechtigkeit, Krankheit und Krieg: Auch sehr gläubige Menschen verstehen oft nicht, wie Gott das alles zulassen kann. Die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes ist sehr alt.

Die evangelische Pfarrerin und Rektorin des Predigerseminars und Pastoralkollegs, Helene Lechner, bezeichnet im Gespräch mit religion.ORF.at das Leid in der Welt als „eine radikale Anfrage an den Glauben“.

Warum gibt es unverschuldetes Leid, Versuchung und das Böse? Sollte ein allmächtiger und gerechter Gott Schlechtes nicht verhindern? Und wenn er es denn nicht tut – ist er also nicht gerecht oder aber nicht allmächtig? Mit dieser Frage, die als Theodizee-Frage bezeichnet wird, setzten und setzen sich viele Theologinnen und Theologen, aber auch die Philosophie intensiv auseinander.

Erbsünde oder „beste aller Welten“?

Kirchenvater Augustinus (354–430) hielt das Schlechte in der Welt noch für eine Folge der Erbsünde. Der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) schuf den Begriff Theodizee für die Frage der „Rechtfertigung“ oder „Gerechtigkeit“ Gottes. Er ging davon aus, dass Gott „die beste aller möglichen Welten“ erschaffen habe. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) beschrieb die Übel als Durchgangsstadium: Gott kenne den Endzweck der Welt und brauche nicht regulierend einzugreifen.

Karfreitag zeigt auf das, was nicht gut ist

Das Neue Testament stellt die Frage in den Mittelpunkt der Passion von Jesus Christus mit seinem Aufschrei: „Um die neunte Stunde rief Jesus laut: ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?‘“ (Mt 27,46).

Diego Rodriguez de Silva y Velazquez: Christus am Kreuz (ca. 1632)
Public Domain/Wikipedia
Auch Christus stellte die Frage am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Christus am Kreuz, Diego da Silva y Velazquez, ca. 1632)

„Der Karfreitag nimmt das, was nicht gut ist, in den Blick“, sagt Theologin Lechner: „Das, wo man Ohnmacht erfährt und wo man auch merkt: Da gibt es Grenzen in dem, was wir von der Welt verstehen können.“ Christinnen und Christen durchlebten in gewisser Weise diese Grenzen am Karfreitag.

Gott leidet mit – am Kreuz

Denn der Karfreitag „stellt für uns den Gedanken in den Mittelpunkt, dass Gott mit uns unterwegs ist – auch im Leiden, oder gerade im Leiden“, so die Pfarrerin. „Ich denke, Gott ist keiner, den wir so denken, dass er auf einer Himmelswolke sitzt und Abstand hat zu dem, was wir an Leid, auch an Schuld erfahren beziehungsweise tun. Gott nimmt Anteil am menschlichen Leben – das zeigt uns das Kreuz.“

Angesprochen auf den Krieg sagt die Theologin: „Als Menschen haben wir die Möglichkeit, die Welt zu gestalten. Das führt zu Gutem und Schlechtem und auch zu Katastrophen.“

Theodizee

Der Begriff stammt von dem Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und bedeutet „Gottes Gerechtigkeit“ oder auch „Rechtfertigung Gottes“ von griech. „theos“ – Gott und „dike“ – Gerechtigkeit.

Hiob, „der prototypische Fromme“

Zurück zur Frage nach der Theodizee, oder wie Lechner es anders formuliert: „Warum macht er denn nicht ‚schnipps‘ – und alles ist gut?“ Krankheiten, Kriege und anderes Leid treffen Menschen oft unvermittelt. Ein Beispiel dafür ist der biblische Hiob: Hiob sei „der prototypische Fromme“, so Lechner, er hatte alles: eine große Familie, viele Tiere und wirtschaftlichen Erfolg.

„Aber dann wird er auf die Probe gestellt und verliert alles.“ Beeindruckend finde sie, „dass Hiob Gott herausfordert und nicht schüchtern in der Ecke sitzt, sondern mit Gott ins aufgeregte Gespräch kommt“. Hiob streitet mit Gott, möchte man sagen – er verlangt sogar eine Rechtfertigung für das in seinen Augen unverschuldet Erlittene. So heißt es selbstbewusst in Hiob 13,18: „Seht, ich bringe den Rechtsfall vor; ich weiß, ich bin im Recht.“

Streiten mit Gott

„Bei aller Herausforderung wendet er sich nicht von Gott ab. Er ruft seinen Gott in die Verantwortung, hält an ihm fest bis zuletzt und schöpft daraus vielleicht auch Kraft.“ Hiob sei nicht ohnmächtig. „Das zeigt mir: Gott ist ein Ansprechort, dem ich mein Herz ausschütten kann. Ich muss nicht ein stummer Leidender sein, ich kann streiten mit Gott“, so die Theologin.

„Der geduldige Hiob“ von Gerard Seghers (1591–1651)
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Streiten mit Gott: Hiob-Darstellung von Gerard Seghers (1591–1651)

Die Liebe am Kreuz

Die Kraft der Ostererzählung sieht sie nicht ausschließlich auf das Jenseits bezogen, sie reiche in die Gegenwart hinein. „Wenn Ostern mir erzählt, dass Leid und Schuld und Tod kein Endpunkt sind, dann kann ich ja hoffen, dass es Neuanfänge gibt: Kraft zur Veränderung.“

Der Karfreitag stellt den Tiefpunkt in der Leidensgeschichte Christi dar – ein Tiefpunkt, der sich über drei Tage erstreckt und am Ostersonntag mit der Feier der Auferstehung endet. „Die Liebe bedarf des Kreuzes nicht, aber de facto kommt sie ans Kreuz“, schrieb die deutsche evangelische Theologin Dorothee Sölle (1929–2003).

Die evangelische Pfarrerin Helene Lechner
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Pfarrerin Helene Lechner

„Da, wo Liebe ist, ist Widerstand“, so Lechner. Was uns zu Ostern erzählt wird, weise hinaus auf eine Zukunft: „Die Ostererfahrung ist eine Frohbotschaft.“ Gläubigen gibt sie Hoffnung auf eine Zukunft trotz der Erfahrung von Ende und Tod. Die Auferstehung feiert den Sieg des Lebens über den Tod.

Über die eigenen Grenzen nachdenken

Lechner erinnert daran, dass der Karfreitag für Evangelische ein sehr wichtiger und zentraler Feiertag ist, ein Tag zum Innehalten. „Einer Gesellschaft tut es nicht schlecht, einen Tag lang zu überlegen: Stimmt, wir Menschen haben Grenzen, und wie gehen wir damit um, wenn wir Leid sehen oder erfahren? Wo schauen wir hin, angesichts von Leid? Wenn wir anderen helfen, tun wir das, weil wir ergriffen sind vom Schicksal des oder der Nächsten.“

Das gilt auch für die Arbeit von Seelsorgerinnen und Seelsorgern. „Auch wir verstehen nicht alles oder haben auf jede Frage eine Antwort. Auch uns bleibt manchmal jeder Sinn verborgen und Gott erscheint uns fern“, so die Pfarrerin. „Letztlich halten wir daran fest, dass Gott ein gerechter Gott ist.“ Denn trotz allem lebten Christinnen und Christen „im Licht der Osterbotschaft, die davon erzählt, dass es bei den Karfreitagen dieser Welt nicht bleibt, sondern dass auf Not und Tod das Leben folgt“.