Der Dom in Münster
Reuters/Leon Kuegeler
Reuters/Leon Kuegeler
Deutschland

Studie: Bis zu 6.000 Missbrauchsopfer im Bistum Münster

Das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs im deutschen römisch-katholischen Bistum Münster ist einer unabhängigen Studie zufolge deutlich größer als bisher angenommen. 610 Fälle sind bekannt, die Dunkelziffer liegt laut Studie bei bis zu 6.000.

Die Diözese Münster hatte die am 1. Oktober 2019 begonnene Studie selbst in Auftrag gegeben und den Forschenden Unabhängigkeit zugesichert. Laut der über zwei Jahre dauernden Forschungsarbeit eines fünfköpfigen Teams gab es von 1945 bis 2020 fast 200 Kleriker und bekannte 610 minderjährige Opfer von sexuellem Missbrauch. Damit sind 4,17 Prozent der Priester betroffen.

Aus den Akten des Bistums ergebe sich eine Zahl von 610 Missbrauchsopfern und damit mehr als ein Drittel mehr, als in der 2018 präsentierten MHG-Studie der Deutschen Bischofskonferenz erfasst wurden, teilten die mitarbeitende Wissenschaftlerin und die Wissenschaftler der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) am Montag mit. Das Kürzel „MHG“ steht für „Mannheim, Heidelberg, Gießen“ und bezeichnet ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zum Thema sexueller Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche in Deutschland.

Sündige Kirche

Was haben ein überhöhtes Priesterbild, der vielzitierte Klerikalismus und eine rigide Sexualmoral mit Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche zu tun? Welche Rolle spielt die Priesterausbildung in Sachen Missbrauchsprävention? Eine Spurensuche.

Missbrauch „flächendeckend“

Die an der Studie beteiligte Historikerin Natalie Powroznik sagte, die 610 Opfer seien nur das Hellfeld, das sich aus den Akten ergebe. Aus vergleichbaren Fällen sei von einem Dunkelfeld auszugehen, das acht- bis zehnmal so groß sei. Es gebe also „etwa 5.000 bis 6.000 betroffene Mädchen und Jungen“ im Bistum Münster.

Der Historiker Thomas Großbölting widersprach bei der Vorstellung der Studie der Schilderung des 2008 verstorbenen Bischofs Reinhard Lettmann, der von Einzelfällen gesprochen hatte. Missbrauchsfälle habe es flächendeckend in allen Dekanaten des Bistums gegeben, und viele hätten davon gewusst, sagte Großbölting und sprach von Vertuschung.

„Die katholische Kirche ist Täterorganisation“, sagte Großbölting. Auch Laien hätten einen Priester als „heiligen Mann“ betrachtet und zur Vertuschung beigetragen. Er kritisierte, dass die Aufarbeitung nur durch Druck von außen erfolgt. Neben den inzwischen umgesetzten Maßnahmen zur Prävention und Aufklärung müsse in der Diözese nun auch eine Debatte über die Machtstrukturen folgen. Betroffene beklagten immer wieder auch Defizite in der Kommunikation der Diözese mit ihnen.

5.700 Einzeltaten

An den 610 namentlich bekannten Opfern seien mindestens 5.700 Einzeltaten sexuellen Missbrauchs verübt worden. In der Hauptphase der Taten – die 60er und 70er Jahre – habe es in den Gemeinden des Bistums Münster im Durchschnitt zwei Missbrauchstaten durch Priester pro Woche gegeben. Drei Viertel der Opfer seien Buben, ein Viertel Mädchen, der Großteil zwischen zehn und 14 Jahre alt gewesen.

Die Studienmacher berichteten von zum großen Teil schweren Missbrauchstaten mit erheblichen psychischen Folgen für die Opfer bis hin zu Depressionen und Suizidgedanken. Bei 27 der namentlich bekannten Missbrauchsopfer im Bistum seien Hinweise auf Suizidversuche gefunden worden. Powroznik sagte, immer wieder hätten Priester den Missbrauch zu einer „gottgefälligen“ Handlung umgedeutet.

Versäumnisse auf Führungsebene

Der Münsteraner Bischof Felix Genn will sich am Freitag zu der Studie äußern. Die Studienautoren werfen dem seit 2009 in Münster als Bischof tätigen Genn Versäumnisse vor. Wenn ein Missbrauchstäter Reue gezeigt habe, sei Genn kirchenrechtlich nicht immer konsequent vorgegangen.

Erst in jüngerer Zeit werde in Münster konsequent vorgegangen. Schwere Vorwürfe machten die Forscher dem verstorbenen Lettmann, der immer wieder auch als pädokriminell bekannte Priester in der Seelsorge eingesetzt habe.

Kritik an Fokus auf katholische Kirche

Neben der Kritik an der katholischen Kirche warf der Historiker Großbölting auch der Politik vor, die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu verschleppen. In der öffentlichen Wahrnehmung dominiere die Beschäftigung mit der katholischen Kirche, sagte Großbölting in einem Interview mit dem Magazin „Cicero“ (Montag). Diese gesellschaftliche Wahrnehmung sei aber verzerrt. „Kommunionsunterricht ist für Kinder nicht gefährlicher als der Sportverein.“

Es sei richtig, die speziellen katholischen Mechanismen zu verstehen, über katholische Machtkonstellationen, über die katholische Sexualmoral zu reden, so der Historiker. Es spiele auch eine Rolle, so das Ergebnis der Untersuchung, dass die Kirche lange „auf dem hohen Ross der moralischen Instanz“ gesessen sei . Dennoch beklagte Großbölting Zurückhaltung der Politik, die die katholische Kirche mit dem Problem alleine lasse. „Gelegentlich macht es schon den Eindruck, dass die Politik diese Auseinandersetzung scheut und froh ist, dass alle nur über die Kirche reden.“