Deutschland

Erinnerung an NS-Gräuel: Juden gegen Schlussstrich

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, warnt davor, die Erinnerung an die Ermordung der Juden und die Gräuel der Nazi-Zeit zu verdrängen.

Laut einer aktuellen Umfrage wollten 49 Prozent der Deutschen gerne einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen, erinnerte er in einem Gastbeitrag für die „Süddeutsche Zeitung“ (Mittwoch) zum 9. November, dem Gedenktag an die Novemberpogrome von 1938: „Ich würde diesen Menschen dringend empfehlen, sich mit einem Schoah-Überlebenden zusammenzusetzen. Noch leben einige von ihnen. Und ihre Traumata hallen noch in ihren Kindern und Enkeln nach und werden auch bei deren Nachfahren noch nicht verklungen sein.“

„Ohne eine gelebte Erinnerungskultur gibt es auch keine demokratische Kultur der Bundesrepublik Deutschland“, fügte Schuster hinzu. Es sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Erinnerung zu bewahren und weiterzuentwickeln: „Bald wird es keine Zeitzeugen mehr geben. Gleichzeitig wächst die Zahl an Menschen, die keine biografischen Bezüge zur NS-Zeit haben. All das macht das verantwortungsbewusste Erinnern nicht leichter.“

Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden an einem Rednerpult
APA/AFP/Thomas Kienzle
Josef Schuster spricht sich für eine Fortführung der Erinnerungskultur an die Nazi-Gräuel aus

„Erinnerung steht zur Disposition“

Schuster schrieb von einem „Paradigmenwechsel“ in Deutschland: „Die Erinnerung an den Holocaust steht zur Disposition.“ Dazu trügen auch kalendarische Zufälle bei. Der 9. November steht für drei einschneidende Ereignisse in der deutschen Geschichte: 1918 rief in Berlin Philipp Scheidemann die Republik aus, 1938 setzten die Nationalsozialisten in der Reichspogromnacht Synagogen und andere jüdische Einrichtungen in Brand und drangsalierten und ermordeten Jüdinnen und Juden, 1989 fiel die Mauer in Berlin.

Auch die Documenta in Kassel erwähnte der Zentralratspräsident: „Dass so etwas mehr als 75 Jahre nach der Nazi-Barbarei in Deutschland möglich ist, hätte ich mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht vorzustellen gewagt.“

Schuster ortet „Revisionismus“

Israelfeindliche und antisemitische Haltungen „sind im internationalen Kulturbetrieb schon lange keine Außergewöhnlichkeit mehr“, ergänzte Schuster. Auch in Politik und Medien nähmen „Aussagen von geistigen Brandstiftern, wie nach meiner Überzeugung (Alexander, Anm.) Gauland und (Bernd, Anm.) Höcke“ zu. Zudem führe die „Beharrlichkeit der AfD“ dazu, „dass dieser Revisionismus auch im bürgerlichen Lager aufgegriffen wird“ und dass etwa Historiker in renommierten Medien ein „Recht auf Vergessen“ einforderten.