Oberkantor Shmuel Barzilai singt in Synagoge / Wiener Stadttempel
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Wien

Shmuel Barzilai: Die Aufgaben eines jüdischen Kantors

Seit 30 Jahren ist Shmuel Barzilai Oberkantor der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien. Im Gespräch mit religion.ORF.at erzählt er von seinen Aufgaben als Vorbeter in der Synagoge, seiner Motivation und der Bedeutung des Jüdischen Kinderchors.

Barzilai übersiedelte 1992 mit seiner Frau, der bildenden Künstlerin Dvora Barzilai, und den ersten drei seiner insgesamt vier Kindern von Israel nach Wien. Wie der Oberkantor erzählt, gefiel ihm die Stadt von Anfang an: „Ich war sehr begeistert. Die Stadt ist wunderschön, die Synagoge ist toll, nicht nur wegen der Atmosphäre und der Akustik.“ Von Anfang an habe er viel Unterstützung erfahren: „Ich wusste genau, dass die Menschen hinter mir und dem was ich mache, stehen, und das hat mir sehr große Freude bereitet.“

Barzilai stammt aus einer bekannten Jerusalemer Kantorenfamilie. Sein Berufswunsch kam also nicht überraschend: „Wenn man in einer Familie wie der meinen aufwächst, ist die Musik schon fest im Kopf.“ Wie er in der Schule für Kantoralmusik in Tel Aviv merkte, gab es dennoch sehr viel zu lernen. Traditionell sollte ein jüdischer Kantor nicht nur eine gute Stimme haben, sondern auch ein fundiertes Wissen über die Liturgie. Heute ist Barzilais Repertoire sehr groß und umfasst neben liturgischer kantoraler Musik auch jüdische Soulmusik, chassidische und Klezmer-Musik, ebenso wie israelische Lieder, Opern und klassische Gesangsliteratur.

Tradition und Erneuerung

Wie Barzilai erzählt, waren ihm von Beginn an in seiner Arbeit als Oberkantor vor allem zwei Dinge wichtig. Er wollte sich ganz bewusst an der Tradition des ersten Oberkantors Salomon Sulzer orientieren, gleichzeitig aber auch mehr junge Menschen ansprechen: „Ich war überzeugt, dass es die Aufgabe des Oberkantors sein muss, die Gemeinde für sich zu gewinnen.“ Dazu sei es aber notwendig, auch in musikalischer Hinsicht auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen.

Barzilai entschied sich dazu Musik auszuwählen, bei der die Gemeinde mitsingen und nicht nur passiv zuzuhören konnte. Das hört man auch bei den Kantorenkonzerten in der Seitenstettengasse, die zu den jährlichen Fixpunkten der IKG gehören. Anlässlich seines 30. Wienjubiläums gestaltete der Oberkantor das Konzert in diesem Jahr gemeinsam mit Shai Abramson, Oberkantor der israelischen Verteidigungsstreitkräfte (Israel Defense Forces).

Jüdischer Kinderchor

Ein besonderes Anliegen war Barzilai von Beginn an die Gründung des Jüdischen Kinderchores: „Der Kinderchor bringt sehr viel Freude in die Familien, weil die ganze Familie begonnen hat, diese Melodien zu singen.“ Durch den Kinderchor habe sich so auch das Repertoire der Gemeinde geändert. Vor allem aber hätten die Kinder selbst gewonnen, sagt Barzilai: „Sie stehen nun selbstbewusster auf der Bühne. Das hilft ihnen, wenn sie in Zukunft zum Beispiel Rabbiner oder Professor oder was auch immer werden wollen.“

Oberkantor Shmuel Barzilai mit dem Jüdischen Kinderchor in der Hofburg
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Shmuel Barzilai mit dem Jüdischen Kinderchor in der Hofburg

Der Chor stehe prinzipiell allen jüdischen Kindern im Alter zwischen sieben und 14 Jahren offen, erzählt Barzilai – auch Mädchen: „Wir proben gemischt hier in meinem Büro und treten bei Konzerten gemischt auf.“ Beim Gottesdienst in der Synagoge jedoch würden nur die Buben auftreten, weil im Wiener Stadttempel Männer und Frauen getrennt beten.

Natürlich gebe es Mädchen, die auch gerne in der Synagoge im Chor singen würden, sagt Barzilai, dies sei aber aufgrund der religiösen Gesetze und Traditionen nicht möglich. „Sie kommen aber trotzdem sehr gerne zur Probe, sie fühlen sich hier zu Hause, und wenn ich es schaffe Konzerte zu organisieren, dann kommen sie da auch mit“, so Barzilai.

Brückenbau als Aufgabe

Die Arbeit in der Synagoge ist Barzilai sehr wichtig, und doch versteht er sie nur als einen Teil seiner Aufgabe: „Wenn ich auftrete, als Österreicher, der aus Israel kommt und von der österreichischen Regierung beauftragt wurde, dann versuche ich als Brückenbauer Menschen zusammenzubringen.“

Oberkantor Shmuel Barzilai
Rossen Donev
Shmuel Barzilais Konzerte führten ihn um die ganze Welt

Seine Auftritte im Auftrag des Österreichischen Kulturforums führten ihn von Europa, in die USA, bis nach Australien, Neuseeland, Russland und Israel. Aufgrund seines Engagements als Kantor und Sänger wurde Barzilai 2017 das „Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich“ und 2018 das „Goldene Verdienstzeichen des Landes Wien“ verliehen. Wie in den Würdigungen, etwa durch den damaligen SPÖ-Kulturminister Thomas Drozda hervorgehoben wurde, stehe Barzilai auch „für die lebendige jüdische Kultur in Österreich, die Teil der kulturellen Identität Österreichs ist“.

Jeden Tag Auftritte zu Chanukka

Eine besonders intensive Zeit ist das achttägige Chanukka-Fest. Mit diesem gedenken Jüdinnen und Juden jährlich der Wiedereinweihung des zweiten Tempels in Jerusalem vor über 2000 Jahren. Während dieser Zeit wir jeden Tag eine Kerze mehr am Chanukka-Leuchter gezündet, bis am Ende, heuer am 25. Dezember, alle acht Kerzen leuchten.

Barzilai tritt während Chanukka jeden Tag auf. Mit dem Kinderchor singt er am Montag beim Wiener Bürgermeister. Ein Kantorenkonzert findet am Dienstag in Budapest statt. Am Sonntag werden die Chanukka-Kerzen in der Wiener Innenstadt beim „Stock im Eisen“ für die ganze Stadt angezündet, erzählt Barzilai.

„Gutes tun“

Zu den zahlreichen Aufgaben eines Oberkantors zähle auch, das Miteinander in der jüdischen Community zu pflegen – in Wien keine kleine Aufgabe, ist die jüdische Gemeinschaft doch sehr vielfältig. Streng gläubige Juden und Jüdinnen sind ebenso Teil der Gemeinde wie säkular Lebende.

„Ich versuche, niemanden zu ändern“, so Barzilai: „Jeder mit seiner Richtung, mit seinen Traditionen ist richtig. Ich akzeptiere jeden unabhängig von seinem Glauben und seiner Tradition.“ Wichtig sei ihm aber auch, dass niemand versuche, ihn zu ändern. Seiner Einschätzung nach funktioniere das Miteinander: „Wir leben sehr gut miteinander und versuchen Gutes zu tun.“ Das wolle er auch in Zukunft in dieser Weise fortsetzen.