Kirchenaustritte

Katholische Kirche: Hohe Austrittszahlen „schmerzen“

Die katholische Kirche muss bei den Kirchenaustritten einen enormen Anstieg hinnehmen: 90.808 Menschen haben 2022 die römisch-katholische Kirche verlassen. Zu den Gründen gibt es unterschiedliche Erklärversuche.

„Natürlich schmerzen die hohen Austrittszahlen und geben uns zu denken“, sagte der Linzer Bischof Manfred Scheuer zu den am Mittwoch veröffentlichten Zahlen. Die Gründe für einen Kirchenaustritt seien vielschichtig und würden sowohl gesellschaftliche als auch kirchliche Problemstellungen betreffen. 2022 seien wohl auch die massiven Teuerungen bei den Lebenshaltungskosten ein letzter Anlass dazu gewesen, die Gemeinschaft der Kirche offiziell zu verlassen.

Den Kirchenbeitrag als Kostenfaktor als Grund zum Austreten bezeichnet der Theologe Paul Zulehner als einer mehrerer „oberflächlicher Gründe“. Auch ein teils als zu stark wahrgenommener Einsatz der Kirche in der Pandemiezeit – Stichwort Aufrufe zum Impfen – sei einer dieser Gründe, so Zulehner am Mittwoch im Gespräch mit „Religion aktuell“ in Ö1. Dahinter stehe anderes, nämlich ein „unglaubliches Gefälle von der älteren zur jüngeren Generation“.

Theologe Paul Michael Zulehner
Kathpress/Johannes Pernsteiner
Theologe Zulehner: „Unglaubliches Gefälle“ zwischen den Generationen

Glaube nicht mehr „schicksalhaft“

„Wir sehen, dass die ältere Generation noch ‚schicksalhaft‘ geglaubt hat“ – man sei in Österreich eben katholisch und das Christentum in die Kultur eingebettet gewesen. Heutzutage gebe es eher eine Wahl, auch was Religion angehe.

„Austritte sind gleichsam eine Abwahl der ererbten Gestalt des Christentums“, so Zulehner. Die Kernfrage sei, ob es der Kirche gelingen wird, Menschen (zurück-)zu gewinnen. Momentan klafften Verkündigung und Kirche auf der einen und das Leben der Menschen auf der anderen Seite auseinander, sagt der Theologe.

„Kulturkatholizismus“ nimmt ab

Die katholische Theologin Regina Polak sagte am Mittwoch im Interview mit Kathpress, die Coronavirus-Pandemie habe eine „Institutionen-distanzierte Haltung“ in der Bevölkerung verstärkt – auch in Bezug auf die Kirchenbindung. Es gebe in Österreich einen ausgeprägten „Kulturkatholizismus“, der abnehme, wenn entsprechende Praxiserfahrung etwa in Sonntagsgottesdiensten wegfällt, sagte Polak.

Sendungshinweis

Dem Thema Kirchenaustritte widmet sich auch „Religion aktuell“, 11. Jänner um 18.55 Uhr in Ö1

Wirtschaftliche, inflationsbedingte Einbußen sieht auch sie nicht als Grund für einen Kirchenaustritt, wohl aber als Anlass. Obwohl die Kirchenbeitragsstellen in finanziellen Notlagen Kulanz zeigten, sei der entsprechende Erlagschein für manche ein letzter Anstoß zum Abschied von einer fremd gewordenen oder nach der Taufe als Kleinkind nie vertraut gewordenen Glaubensgemeinschaft.

Auch Missbrauch wohl Anlass

Für Kirchendistanzierte mag auch das anhaltende Thema Missbrauch ein Anlass gewesen sein, die formelle Mitgliedschaft zu beenden, so die Theologin. Die Debatte darüber in Deutschland oder auch in Frankreich sei nach Österreich übergeschwappt, obwohl Verantwortliche hierzulande bereits seit Jahren glaubwürdige Prävention betrieben.

Der Linzer Bischof Scheuer sieht im Hintergrund einer Entscheidung für die Erklärung des Kirchenaustritts „mitunter Ärger, Entfremdung und Kränkungen, mitunter aber auch Enttäuschung über kirchliche Entwicklungen oder Gleichgültigkeit“, berichtete Kathpress.

Nur punktuelle Berührungspunkte

Viele hätten oft nur wenige, eher punktuelle Berührungspunkte mit der Kirche, etwa bei volkskirchlichen Festen oder den familiären Feiern von Taufe, Erstkommunion, Firmung, Trauung oder Begräbnis. Scheuer: „Wenn diese Begegnungen als positiv wahrgenommen werden, kann das den Bezug zur Kirche und ihren Gemeinschaften stärken. Bei anderen ist die Distanz so groß, dass sie die Gemeinschaft ohne persönlichen Kontakt verlassen.“

Theologin Regina Polak
Kathpress/Michaela Greil
Theologin Polak sieht unter anderem auch das Thema Missbrauch als einen möglichen Beweggrund zum Austritt.

Der Bischof verwies auf die vielfältigen Aufgaben und Handlungsfelder der Kirche: „Es geht da um die unmittelbare finanzielle Nothilfe genauso wie um Beratung, Begleitung und Seelsorge. Konkret zählen dazu die vielen Handlungsfelder der Caritas der Diözese Linz. Es zählt dazu das flächendeckende regionale Netz der Pfarren mit ihrem hohen ehrenamtlichen Engagement in Kultur und Bildung sowie der konkreten Seelsorge vor Ort, oder auch die Seelsorge an besonderen Orten wie in Krankenhäusern und Seniorenheimen, in Betrieben, Jugendzentren, Gefängnissen.“

Wichtige Initiativen

Dazu gehörten Hilfsangebote der Katholischen Aktion und für alle offene Angebote wie die Telefonseelsorge, weitere Beratungsstellen oder der kirchliche Einsatz für Arbeit suchende Menschen. Auch die Ordensgemeinschaften mit ihren vielfältigen sozialen, humanitären und kulturellen Initiativen seien weitere wichtige kirchliche Akteure auf der sozialen Landkarte Oberösterreichs, so der Bischof.

Er danke allen, so Bischof Scheuer, „die als sich als Mitglieder zur katholischen Kirche bekennen und Kirche aktiv mitgestalten – als haupt- bzw. ehrenamtlich Engagierte, als Mitfeiernde oder als finanzielle Unterstützerinnen und Unterstützer.“

„Nicht in Schockstarre verfallen“

Die Kirchenleitung solle angesichts wenig erfreulicher Zahlen jedenfalls „nicht in Schockstarre verfallen“, so Theologin Polak. Es brauche starke Bischöfe, die pastorale Konzepte vor allem im Bereich der Kinder- und Jugendseelsorge umsetzen, die religiöse Bildung auch von interessierten Erwachsenen fördern und Gläubige in den Gemeinden ermutigen.

Es gebe in Österreich nach wie vor beachtliche Ressourcen an Personal und Mitteln, über die vergleichbare Kirchen anderswo in Europa nicht verfügten – etwa viele leerstehende Räume, über deren sinnvolle Nutzung man sich Gedanken machen sollte.

„Binnenhorizonterweiterung“

Bei Vorträgen in Pfarren erlebe sie schon immer wieder Frustration über den Relevanzverlust der Kirche, berichtete Polak. Die Mitglieder würden älter, das Nachwuchsproblem mache sich bemerkbar. Die im Zuge des Synodalen Prozesses der Weltkirche groß geschriebene Dialog- und Mitsprachebereitschaft solle sich nicht nur auf der obersten Kirchenebene niederschlagen, sondern auch an der Basis.

Frauenförderung und Partizipation könne man auch vor Ort, auf Gemeindeebene, umsetzen, sagte die auch von der Bischofskonferenz als Fachfrau im Synodalen Prozess geschätzte Wiener Theologin. Und sie plädierte für eine „Binnenhorizonterweiterung“ – also die Bereitschaft, nicht nur die eigenen Strukturprobleme zu bereden – „so wichtig die auch sind“.