Der Dalai Lama, Dezember 2022
APA/AFP/Sanjay Kumar
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Entgleisung

Der Dalai Lama und die Sache mit der Zunge

Der Dalai Lama, weltberühmtes geistliches Oberhaupt der Tibeter und Ikone im Dauerexil, hat mit einem Video für Aufsehen gesorgt, in dem er einen Buben dazu aufgefordert hat, an seiner Zunge zu lutschen. Dafür entschuldigte er sich per Twitter. Übrig bleibt die Frage: Warum hat er das nur gemacht?

In dem Video umarmt und küsst er das Kind auf die Lippen, streckt ihm die Zunge entgegen und fordert es auf, diese zu lutschen. In sozialen Netzwerken hagelte es daraufhin Kritik am Verhalten des geistlichen Oberhaupts des tibetischen Buddhismus, das seit 1959 im Exil lebt. Der Dalai Lama gilt als eine der wichtigsten buddhistischen Identifikationsfiguren. Sein Engagement für Frieden und Freiheit wurde mit dem Friedensnobelpreis gewürdigt.

Auf dem Twitter-Account des Dalai Lama erschien nach dem Vorfall am Montag eine Entschuldigung. „Seine Heiligkeit neckt oft Leute, die er trifft, auf eine unschuldige und verspielte Art, sogar in der Öffentlichkeit und vor Kameras“, hieß es dort unter anderem.

Der „heilige Narr“

Die Religionswissenschaftlerin Ursula Baatz sagt am Mittwoch im Gespräch mit religion.ORF.at, „dass der Dalai Lama wirklich eine große Neigung hat, unvorhergesehene Dinge zu tun, die Leute ein bisschen aus dem Konzept bringen“. In der tibetischen buddhistischen Tradition gebe es das Konzept des „heiligen Narren“, so Baatz.

„Die gibt es im Übrigen in jeder Religion – heilige Narren sind Menschen, die aufgrund ihrer tiefen inneren Freiheit Dinge tun, die andere Leute irritieren oder vielleicht auch dazu bringen, ihre Situation zu überdenken. Ein heiliger Narr ist jemand, der Konventionen bricht, nicht um zu revoltieren, sondern um zu zeigen, dass es Konventionen sind.“ So habe der Dalai Lama beispielsweise im Jahr 2012 im Rahmen eines sehr wichtigen, feierlichen buddhistischen Rituals statt der vorgesehenen Krone eine Baseballkappe aufgesetzt.

Grenze klar überschritten

Im vorliegenden Fall mit der Belästigung eines Kindes allerdings sei klar eine Grenze überschritten worden. Baatz sagt, sie glaube, dass der Dalai Lama sich „in dieser Situation einfach nicht dessen bewusst war, dass es eine Handlung ist, die von anderen als grenzüberschreitend wahrgenommen wird“. Jemandem die Zunge entgegenzustrecken, ihn oder sie auf die Lippen zu küssen und Ähnliches „ist in unserer Kultur etwas komplett Unvorstellbares“, stellt die Religionswissenschaftlerin klar.

Dalai Lama, Besuch in Rikon, Schweiz, 21. September 2018
Reuters/Arnd Wiegmann
Ein Freund von Scherzen: Der Dalai Lama bei einem Besuch in der Schweiz im Jahr 2018

In der tibetischen Kultur hingegen sei das Herausstrecken der Zunge unter gewissen Umständen eine Form der sehr respektvollen Begrüßung. In der westlichen Kultur hat das nicht nur etwas Despektierliches, viele brachten die Aufforderung des Dalai Lama an das Kind, an seiner Zunge zu lutschen, mit sexuellem Missbrauch in Zusammenhang.

Einsatz gegen sexuellen Missbrauch

Daran denkt Expertin Baatz hier nicht: „Er hat sich seit den 1990er Jahren immer wieder explizit gegen sexuellen Missbrauch ausgesprochen und hat auch wirklich immer, soweit es ihm möglich war, Aktionen gesetzt.“ Denn Missbrauchsfälle gibt es in buddhistischen Einrichtungen ebenso wie in anderen Religionsgemeinschaften auch.

Ein Video des Dalai Lama sorgt seit mehreren Tagen für Empörung in den sozialen Netzwerken. Es zeigt, wie der 87-jährige einen Jungen auffordert, seine Zunge zu lutschen.

Dennoch bleibt der Eindruck eines verwirrten, übergriffigen 87-Jährigen zurück. Für viele stellt sich die Frage, ob sich der als Tenzin Gyatso geborene Dalai Lama nicht aus seinem Amt zurückziehen sollte – etwa nach dem Vorbild des emeritierten Oberhaupts der katholischen Kirche, Papst Benedikt XVI.

Der letzte Dalai Lama?

Aber so einfach ist das nicht, so Baatz: China werde versuchen, „wenn dieser Dalai Lama tot ist – und vorher kann es keinen neuen Dalai Lama geben -, einen eigenen Dalai Lama zu inthronisieren“. Der aktuelle, 14. Dalai Lama sagte in der Vergangenheit schon öfter, er werde die letzte Inkarnation des Dalai Lama sein.

Denn ein Dalai Lama ist – neben seiner sozialen, religiösen und politischen Rolle – eine Inkarnation des Bodhisattva, eines heiligen Wesens, das bereits erlöst ist, aber aus Mitgefühl mit den anderen Menschen noch auf Erden wandelt, um ihnen zu helfen. Das heißt, so die Religionswissenschaftlerin, „er ist eine spirituelle Figur, und als solche kann er natürlich nicht zurücktreten. Das ist so wie in der katholischen Kirche: Wenn jemand zum Priester geweiht ist, dann bleibt er ein Priester, was immer er sonst tut.“

Aber natürlich könne er seine soziale Rolle zurücklegen. Die politische hat er bereits zurückgelegt: Die tibetische Exilcommunity hat ein Parlament und seit 2001 eine demokratisch gewählte Vertretung, und der Dalai Lama sei daher eigentlich nur noch eine spirituelle Integrationsfigur. Was er in ansehbarer Zeit tun werde, ob er an Rücktritt überhaupt denke, könne niemand sagen, so Baatz.