Ethik

Moraltheologe: Weniger Verbotsmoral, mehr Begleitung

Die Aufgabe der Kirche ist es weniger zu moralisieren, sondern die Menschen in ihrer Liebes- und Beziehungsfähigkeit zu unterstützen: Das sagt der Südtiroler Moraltheologe und Ordenspriester Martin Lintner OSM im Interview für die Wiener Kirchenzeitung „Der Sonntag“ (aktuelle Ausgabe).

Der Umgang der Kirche mit den Themen Sexualität und Liebe sei in der Vergangenheit nicht immer der einfachste gewesen; zu oft seien diverse Verbote und ausschließlich „reguläre Beziehungen“ – also heterosexuelle Beziehungen – im Vordergrund gestanden. Die Kirche und ihre Verantwortlichen müssten den Menschen zugestehen, dass sie ihr Leben selbstverantwortlich gestalten, so die Forderung des Theologen.

„Die katholische Kirche hat im Bereich der Sexualmoral und Beziehungsethik viel Kredit verspielt und Glaubwürdigkeit eingebüßt“, so Lintner, der an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen lehrt. Auch den Vorwurf der Verbotsmoral nannte er „hausgemacht“: Die Kirche habe es schlicht verabsäumt, die positiven und lebensbejahenden Gehalte ihrer Lehre auf einladende und zugängliche Weise zu verkünden.

Themen Sex, Gender und Beziehungen

Die gesellschaftlich wie innerkirchlich heiß diskutierten Themen Sex, Gender und Beziehungen stehen auch im Fokus einer aktuellen Veranstaltungsreihe der Wiener „Akademie am Dom“. In vier Vorträgen im Mai referieren neben dem Brixner Moraltheologen Lintner, der am 25. Mai über „irreguläre Beziehungen“ spricht, u. a. die Wiener Religionspädagogin Andrea Lehner-Hartmann, der Bonner altkatholische Theologe Andreas Krebs sowie der Hamburger Historiker und Literaturwissenschaftler Kai Michel.

Entkrampfung

Erst die pastorale Wende des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–65) trug laut Lintner zur Entkrampfung in puncto Beziehung, Ehe und Sexualität bei, da der einzelne Mensch mit seiner Identität, seinem Selbstverständnis sowie seiner sittlichen Selbstbestimmung in den Fokus rückte. Als das letztlich sittlich entscheidende Kriterium für die Gestaltung einer Beziehung nannte der Moraltheologe im „Der Sonntag“-Interview die Liebe. Sie sei eine Grundhaltung und umfasse „die erotische, affektive Zuneigung ebenso wie die entschlossene Willensentscheidung, sich an einen Menschen zu binden und mit ihm durch dick und dünn zu gehen“.

Jedoch habe die Kirche erst lernen müssen, dass Ehe eine Gemeinschaft der Liebe sei, erläuterte der Moraltheologe. In der Tradition der Kirche sei etwa oft über Sexualität, aber wenig von Liebe zu lesen: „Die Ehe war (…) in der Tradition jahrhundertelang eine Zweckgemeinschaft mit dem Ziel, Nachkommen zu zeugen und zu erziehen.“

Sex in der Ehe „als notwendiges Übel“

Hinzu kam, dass seit dem 4./5. Jahrhundert die Sexualität als etwas Sündhaftes angesehen und innerhalb der Ehe „als notwendiges Übel“ geduldet wurde. Der Schritt des Zweiten Vatikanischen Konzils, Ehe „als innige Gemeinschaft des Lebens und der Liebe“ zu definieren, sei folglich ein großer Schritt gewesen, dem in die Entwicklungen in der modernen Gesellschaft mit dem Ideal der Liebesheirat zuvor gingen.

Kritisch betrachtete Lintner kirchliche Beziehungsideale: „Das menschliche Leben ist zu komplex, als dass man ihm mit einer ‚Alles oder nichts‘-, mit einer ‚Schwarz-Weiß‘-Mentalität gerecht werden könnte.“ So sollte die Kirche die Menschen darin unterstützen, sich einem Beziehungsideal anzunähern, aber gelebte Realität nicht sittlich negativ beurteilen, wenn sie nicht zur Gänze dem Ideal entspreche.

Auch die Begriffe der „reguläre“ und „irregulären“ Beziehungen sollten dringen überdacht werden, so Lintner. Die Begriffe würden ein sprachliches Urteil fällen, ohne etwas über die Qualität der Beziehungen auszusagen, sondern nur über die äußere Form bzw. die Konformität einer Beziehung. „Wir müssen eine Sprachform finden, die das zum Ausdruck bringt, was die moralische und menschliche Qualität einer Beziehung ausmacht, und das ist jedenfalls nicht nur die äußere Form“, so Lintners Fazit.