Eine Statue von Maria mit einem Kind am Arm in der Saint-Sulpice Kirche in Paris
Reuters/Stephane Mahe
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Rezension

Charismatische Führer: Mechanismen des Missbrauchs

Die kirchliche Laienbewegung der Neuen Geistlichen Gemeinschaften galt als Hoffnung der katholischen Kirche. Dass viele ihrer Gründer sich des Missbrauchs schuldig machten, wurde lange Zeit verschwiegen. Die Journalistin Celine Hoyeau bietet in ihrem nun auf Deutsch erschienenen Buch „Der Verrat der Seelenführer“ die erste Gesamtanalyse der Vorfälle.

Hoyeau zählt zu jenen Journalistinnen, die wesentlich zur Aufdeckung von Missbrauch und Vertuschung desselben in der römisch-katholischen Kirche beigetragen haben. Das Feld, das sie in ihrem neuen Buch mit Blick auf die Neuen Geistlichen Gemeinschaften eröffnet, ist ein bisher wenig beachtetes. Dabei reichen der im Hintergrund stehende Trend, „charismatische Persönlichkeiten zu suchen und ihnen zu folgen“, und die Fragen, die das aufwirft, weit über die Kirche hinaus.

Wie die Theologin Hildegund Keul im Vorwort des Buches betont, sind viele der von Hoyeau beschriebenen Neuen Geistlichen Gemeinschaften auch im deutschsprachigen Raum aktiv. Eine umfassende Auseinandersetzung mit den Missbrauchsfällen stehe Keul zufolge in diesen aber noch aus.

Verfehlungen zum System erhoben

Während die Kirche bereits im 20. Jahrhundert zunehmend an Autorität und Macht verlor, konnten Gruppen wie etwa die Legionäre Christi, die Arche, die Mutter der Barmherzigkeit oder die Gemeinschaft der Seligpreisung zahlreiche junge Menschen begeistern. Hoyeau beschreibt diese Entwicklung und analysiert deren Bedeutung für die römisch-katholische Kirche.

Cover des Buchs „Der Verrat der Seelenführer“ von Celine Hoyeau
Verlag Herder

Buchhinweis

Celine Hoyeau: Der Verrat der Seelenführer. Macht und Missbrauch in Neuen Geistlichen Gemeinschaften. Herder, 296 Seiten, 30 Euro.

So groß die Begeisterung innerkirchlich für die Neuen Geistlichen Gemeinschaften zunächst war, umso tiefer sei ihr Fall gewesen, nachdem bekanntwurde, dass zahlreiche Gründer Neuer Geistlicher Gemeinschaften spirituelle und sexuelle Gewalt ausgeübt hatten.

Ausführlich legt Hoyeau dar, wie etwa in der Gemeinschaft vom heiligen Johannes Verfehlungen und Missbrauch von dem Gründer der Gemeinschaft, Pater Marie-Dominique, sogar zum System erhoben wurden. So belegen die Analysen zahlreicher Brüder und Schwestern der Gemeinschaft, dass er Täter, die ihm anvertrauten, Grenzen überschritten zu haben, ermunterte, statt sie zurechtzuweisen. Seine Begründung: „Es könnte vom Herrn kommen.“

Gefährlicher Mix: Mystik, Macht und Erotik

In ihren Recherchen legt Hoyeau ein Netzwerk offen, das Mystik gezielt nutzte, um spirituellen bis hin zu sexuellem Missbrauch zu rechtfertigen und zu vertuschen. Mit seiner Lehre der „Freundschaftsliebe“, die sich in „Gesten der Zärtlichkeit“ ausdrücke, rechtfertigte etwa Pater Marie-Dominique sexuelle Übergriffe im Rahmen der Beichte. Pierre-Marie Delfieux, Gründer der Monastischen Gemeinschaften von Jerusalem, habe laut der Aussage eines seiner Opfer die „Vereinigung von Christus und der Kirche“ beschworen, während er sie küsste und ihren Körper streichelte.

Um nicht nur vergangene Vorfälle aufarbeiten und verstehen zu können, sondern auch langfristige Präventionsarbeit garantieren zu können, brauchte es Hoyeau zufolge auch eine Auseinandersetzung mit jenen Lehren, die zur Rechtfertigung der Übergriffe herangezogen wurden. Im Besonderen fordert Hoyeau in „Der Verrat der Seelenführer“ eine kritische Analyse der Mystik „vor allem in ihrer Kombination mit Macht, Spiritualität und Erotik“, auch durch die wissenschaftliche Theologie. Damit verweist sie auf ein bisher vernachlässigtes Feld innerhalb der wissenschaftlichen Forschung.

Frage nach Mitverantwortung

Hoyeau gehörte selbst, wie sie schreibt, „der Generation Johannes Paul II. an“. Auch sie habe zu jenen gehört, die zunächst diese spirituellen Lehrer und Gründer Neuer Gemeinschaften „als Propheten der voranschreitenden Neuevangelisierung“ betrachteten und Hoffnung in sie setzte. Die Erschütterung über die Berichte über sexuellen und spirituellen Missbrauch seien für sie zum Motor geworden, um nach den Wurzeln der Krise zu fragen und danach, wie es zu den Übergriffen und vor allem auch der Vertuschung dieser kommen konnte.

Hoyeau bleibt dabei nicht unkritisch, sondern fragt auch nach der eigenen Verantwortung und danach, ob Katholiken und Katholikinnen sich haben täuschen lassen, ob die Begeisterung für charismatische Persönlichkeiten sie blind werden ließ für Misshandlungen, die andere erleiden mussten: „Sind wir eine missbrauchte Generation? Oder haben wir uns täuschen lassen? Haben wir mitgemacht? Und wenn ja, wie?“ Als Journalistin fragt Hoyeau zudem nach der eigenen Berichterstattung und ob diese immer kritisch genug war.

Dass der „Sturz der Sterne“, wie Hoyeau es nennt, bis heute nur unzureichend aufgearbeitet ist, erklärt sich auch dadurch, dass zahlreiche Gründer und Gründerinnen der Gemeinschaften idealisiert wurden. Kontrollierende Mechanismen seien mitunter völlig weggefallen.

Keine einfachen Antworten

Hoyeau liefert keine einfachen Antworten, sondern versucht, einen umfassenden Blick auf die durchaus komplexen Situationen zu werfen. Teil der Analyse ist ein präziser Blick auf den historischen Kontext, in dem Neue Geistliche Gemeinschaften entstanden sind und auf jene Faktoren, die den Erfolg charismatischer Persönlichkeiten begünstigten.

Dabei versucht Hoyeau mit ihren Ausführungen weder Probleme zu beschönigen noch Übergriffe zu rechtfertigen. Vielmehr gibt sie dem Leser und der Leserin Werkzeuge in die Hand, um die Komplexität von Macht und Missbrauch zumindest in Ansätzen verstehen zu können. Dazu zählt auch ein besseres Verständnis der Ambivalenz vieler charismatischer Gründerfiguren, der Hoyeau einen eigenen Abschnitt widmet.

Fragen über die Kirche hinaus

Dass Hoyeaus neues Buch auch für säkulare Kreise relevant ist, zeigt sich vor allem hinsichtlich der Frage, wie Prävention gelingen kann. Die Mechanismen, die Hoyeau aufzeigt, durch die Täter und Täterinnen ihre Umgebung täuschen konnten, sind nicht nur in kirchlichen Kreisen zu beobachten.

Ausführlich geht sie etwa auf problematische Autoritätsverständnisse und asymmetrische Beziehungen ein und thematisiert, was es braucht, damit Menschen in intimen Beziehungen überhaupt Widerstand leisten können. Dass Hoyeau neben Experten und Expertinnen auch Zeitzeugen und Betroffene selbst zu Wort kommen lässt, verleiht ihrem Buch zusätzlich Tiefe.

Die zahlreichen offenen Fragen, die Hoyeau in ihrem Werk aufzeigt, betreffen Theologinnen, Historiker, Soziologinnen und Psychologen, wenn es darum geht, die Wurzeln des Missbrauchs systematisch zu untersuchen und Herausforderungen aufzuzeigen. Viele der Fragen betreffen aber auch die Gesellschaft als gesamte, wenn es etwa darum geht, wie mit Lehren und Werken von Personen umzugehen ist, die sich des Missbrauchs schuldig gemacht haben.