Schweizer Kirche und Kreuz
APA/AFP/Fabrice Coffrini
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Katholiken

1.002 belegte Missbrauchsfälle in Schweizer Kirche

Über tausend Fälle von sexuellem Missbrauch in der Schweizer katholischen Kirche belegt eine Studie der Universität Zürich, die am Dienstag vorgestellt wurde. Die Pilotstudie wurde im Auftrag der Schweizer Bischofskonferenz erstellt.

Erstmals sei es einem unabhängigen Forschungsteam ermöglicht worden, in kirchlichen Archiven Akten über sexuellen Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche einzusehen, hieß es in einer Aussendung der Universität. Die Historikerinnen und Historiker der Universität Zürich belegen demnach 1.002 Fälle sexuellen Missbrauchs, die katholische Kleriker, kirchliche Angestellte und Ordensangehörige seit Mitte des 20. Jahrhunderts in der Schweiz begangen haben. Das dürfte allerdings nur die Spitze des Eisbergs sein.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchten außerdem den Umgang katholischer Würdenträger mit Fällen sexuellen Missbrauchs sowie die Verfügbarkeit und Aussagekraft der Quellenbestände. Damit sei die Basis für weitere Forschung gelegt, hieß es weiter.

Kein Zusammenhang mit Vatikan-Ermittlungen

Keinen Zusammenhang" gibt es Angaben des Leiters der Geschäftsstelle des Fachgremiums „Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld“ der Schweizer Bischofskonferenz, Stefan Loppacher, zwischen der Pilotstudie und den derzeitigen internen Ermittlungen des Vatikans gegen mehrere amtierende und emeritierte Schweizer Bischöfe sowie weitere Kleriker wegen des Umgangs mit sexuellem Missbrauch.

Auftrag von der Kirche

Die Schweizer Bischofskonferenz (SBK), die Konferenz der Ordensgemeinschaften und andere religiöse Gemeinschaften in der Schweiz (KOVOS) und die Römisch-Katholische Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) hatten das Historische Seminar der Universität Zürich damit beauftragt, sexuellen Missbrauch im Umfeld der römisch-katholischen Kirche seit Mitte des 20. Jahrhunderts zu untersuchen.

In einer einjährigen Pilotstudie untersuchte ein vierköpfiges Forschungsteam unter der Leitung der Professorinnen Monika Dommann und Marietta Meier die Thematik. Einbezogen wurden nicht nur sämtliche Diözesen in allen Sprachregionen der Schweiz, sondern auch die staatskirchenrechtlichen Strukturen und die Ordensgemeinschaften. „Damit wurde die katholische Kirche in der Schweiz als Ganzes in den Blick genommen“, so der Wortlaut.

Zugang zu Archiven ermöglicht

Bis auf einige Ausnahmen seien dem Projektteam die notwendigen Zugänge zu den Archiven „ohne grössere (sic!) Hürden ermöglicht“ worden. So wurden Zehntausende Seiten bisher geheim gehaltener Akten gesichtet, die von Verantwortlichen der katholischen Kirche seit Mitte des 20. Jahrhunderts angelegt wurden. Zudem wurden zahlreiche Gespräche mit von sexuellem Missbrauch Betroffenen und weiteren Personen geführt.

Das Forschungsteam habe Belege für ein großes Spektrum an Fällen sexuellen Missbrauchs gefunden – "von problematischen Grenzüberschreitungen bis hin zu schwersten, systematischen Missbräuchen, die über Jahre hinweg andauerten. Insgesamt wurden 1.002 Fälle, 510 Beschuldigte und 921 Betroffene identifiziert. In 39 Prozent der Fälle war die betroffene Person weiblichen Geschlechts, in knapp 56 Prozent männlich.

74 Prozent des Missbrauchs an Minderjährigen

Bei fünf Prozent habe sich das Geschlecht in den Quellen nicht eindeutig feststellen lassen. Die Beschuldigten waren bis auf wenige Ausnahmen Männer. Von den Akten, die während des Pilotprojektes ausgewertet wurden, zeugten 74 Prozent von sexuellem Missbrauch an Minderjährigen.

„Bei den identifizierten Fällen handelt es sich zweifellos nur um die Spitze des Eisbergs“, erklärten Dommann und Meier. Zahlreiche weitere Archive konnten demnach noch nicht ausgewertet werden, etwa Archive von Ordensgemeinschaften, Dokumente diözesaner Gremien und die Archivbestände katholischer Schulen, Internate und Heime sowie staatliche Archive. „Die Vernichtung von Akten kann für zwei Diözesen belegt werden“, so die Forscherinnen.

„Nur kleiner Teil der Fälle gemeldet“

Darüber hinaus lasse sich beweisen, "dass nicht alle Meldungen konsequent schriftlich festgehalten und archiviert wurden. Angesichts der Erkenntnisse aus der Dunkelfeldforschung gehen wir davon aus, dass nur ein kleiner Teil der Fälle überhaupt jemals gemeldet wurde“, so Dommann und Meier. Fälle sexuellen Missbrauchs sind für die ganze Schweiz und den gesamten Untersuchungszeitraum belegt.

Im Bericht werden drei soziale Räume mit spezifischen Machtkonstellationen herausgearbeitet, in denen es zu sexuellem Missbrauch kam: In den ausgewerteten Fällen war die Pastoral, mit deutlich über 50 Prozent der soziale Raum mit den meisten Fällen sexuellen Missbrauchs. Gewisse Teilbereiche der Pastoral waren besonders anfällig: die Seelsorge (Situationen wie Beichtgespräche oder Beratungen), der Ministrantendienst und der Religionsunterricht.

Seelsorge und Bildungsbereich „anfällig“

Auch die Tätigkeit von Priestern im Rahmen von Kinder- und Jugendverbänden wird hervorgehoben. Einen zweiten wichtigen sozialen Raum stellt laut der Studie der Bildungs- und Fürsorgebereich der katholischen Kirche dar. Ungefähr 30 Prozent der ausgewerteten Fälle sexuellen Missbrauchs wurden in katholischen Heimen, Schulen, Internaten und ähnlichen Anstalten verübt.

Ein drittes Feld bilden Orden und ähnliche Gemeinschaften sowie neue geistliche Gemeinschaften und Bewegungen (knapp zwei Prozent der ausgewerteten Fälle). „In diesem Bereich gestaltete sich die Quellensuche besonders schwierig“, hieß es in der Studie.

Verschwiegen, vertuscht, bagatellisiert

Sexueller Missbrauch von Minderjährigen ist im Kirchenrecht seit Langem ein schwerwiegender Straftatbestand. „In den ausgewerteten Fällen wurde das kirchliche Strafrecht aber über weite Strecken des Untersuchungszeitraums kaum angewandt. Stattdessen wurden zahlreiche Fälle verschwiegen, vertuscht oder bagatellisiert“, so die Forschenden.

Kirchliche Verantwortungsträger versetzten „systematisch“ beschuldigte und überführte Kleriker, mitunter auch ins Ausland, um eine weltliche Strafverfolgung zu vermeiden und einen weiteren Einsatz der Kleriker zu ermöglichen. „Dabei wurden die Interessen der katholischen Kirche und ihrer Würdenträger über das Wohl und den Schutz von Gemeindemitgliedern gestellt.“

Wandel im 21. Jahrhundert

Ein grundsätzlicher Wandel dieses Vorgehens lasse sich erst im 21. Jahrhundert feststellen. So erließ die Schweizer Bischofskonferenz nach der Jahrtausendwende Richtlinien zum Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs sowie zu deren Prävention und gründete diözesane Fachgremien, die sich mit gemeldeten Fällen befassen sollten. „Diese Gremien weichen jedoch in ihrer Arbeitsweise bis heute deutlich voneinander ab und sind unterschiedlich stark professionalisiert“, hieß es.

Das Pilotprojekt sei der erste systematische Versuch, sexuellen Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche der Schweiz wissenschaftlich zu fassen. Grundsätzliche Fragen des Archivzugangs, des Stands der Erforschung und Dokumentation von Missbrauchsfällen innerhalb der katholischen Kirche sowie die bisherigen Bemühungen zu deren Aufarbeitung und Vermeidung seien nun geklärt, eine Basis für weitere Forschung gelegt. Jetzt gelte es, eine Datenbasis aufzubauen.

Zukünftig genauer untersucht werden sollte die Mitverantwortung des Staates, „vor allem im sozialkaritativen und pädagogischen Bereich, weil hier besonders in katholischen Gebieten oft Aufgaben an die Kirche delegiert wurden“, so die Wissenschaftlerinnen.

Frage nach „katholischen Spezifika“

Ein weiterer Fokus sie auf die Frage nach den „katholischen Spezifika zu legen, die sexuellen Missbrauch im Umfeld der Kirche allenfalls begünstigt haben. Dazu gehören beispielsweise die Sexualmoral, der Zölibat, die Geschlechterbilder innerhalb der Kirche sowie ihr ambivalentes Verhältnis zur Homosexualität.“

Auch die Eigenheiten des katholischen Milieus, das die beschriebenen Dynamiken des Verschweigens und Verleugnens stillschweigend akzeptiert und teilweise unterstützt hat, sollten weiter erforscht werden. Eine große Bedeutung komme dabei Aussagen und Berichten von Betroffenen sowie von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu, die den kirchlichen Archivbeständen gegenüberzustellen seine, erklären Dommann und Meier.

Etwa 38 Prozent der Schweizer Bevölkerung gehören der römisch-katholischen Kirche an, rund 25 Prozent der evangelisch-reformierten Kirche. Rund 26 Prozent sind konfessionslos, 5,4 Prozent gehören einer islamischen Gemeinschaft an, 1,6 Prozent anderen Religionsgemeinschaften.