Buchrezension

Blasphemie ist allgegenwärtig

In rund 70 Ländern gibt es den Tatbestand der Blasphemie – unter ihnen auch Österreich. Was dahinter steckt, zeigt das Buch „Blasphemie. Geschichte und Gegenwart des Frevels“ von Yvonne Sherwood. Es besticht durch zahlreiche Beispiele und aktuelle Bezüge und eröffnet damit neue Blickwinkel.

Sherwood, Professorin für Biblische Kulturen und Politik an der University of Kent (Großbritannien), widmet sich in ihrem nun auf Deutsch übersetzten Buch der Blasphemie aus zum Teil überraschenden Perspektiven. Neben ausführlichen Informationen zu Herkunft und Geschichte des Begriffs beschreibt Sherwood auch, wie Blasphemie ins weltliche Recht einzog.

Das Thema reicht weit über den religiösen Bereich hinaus, zeigt es doch auch, wie Wertvorstellungen und das Verständnis von Öffentlichkeit sich ändern. Sherwood zieht in „Blasphemie“ Verbindungen zu aktuellen Diskussionen. Ausführlich geht sie auf Parallelen zur heutzutage viel thematisierten Hate Speech ein, ebenso auf Stereotype, die den Diskurs prägen.

Blasphemie zeigt Wertvorstellungen

Sherwoods Buch enthält eine Vielzahl konkreter Beispiele, die deutlich machen, welche Rolle die gesellschaftliche Dimension und der soziale und rechtliche Rahmen spielen. Interessant sind die Beispiele, weil sie anschaulich machen, wie unterschiedlich Karikaturen, Kunst und Äußerungen im Laufe der Geschichte verstanden wurden und was Menschen als heilig gilt.

Cover des Buches „Blasphemie. Geschichte und Gegenwart des Frevels“
Claudius Verlag

Buchhinweis

Yvonne Sherwood: Blasphemie. Geschichte und Gegenwart des Frevels, Claudius, 200 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-532-62894-2

Wurde dem Film „Das Leben des Brian“ 1979 noch Blasphemie vorgeworfen, weil Kritiker darin eine Verspottung der Person Christi sahen, sorgt er heute mitunter aufgrund des darin vorkommenden „Blackfacing“ für Aufregung. Blasphemievorwürfe werden Sherwood zufolge so „zum Lackmustest sich verändernder Wertvorstellungen“. An ihnen zeige sich, „wie sich die Grenzen des Denkbaren, Sagbaren und Darstellbaren mit der Zeit verschieben“.

Verblüffende Ähnlichkeiten

Neben unterschiedlichen Wertvorstellungen machen Blasphemievorwürfe aber auch Vorurteile sichtbar. Obwohl alle Religionen das Vergehen kennen und ahnden, wird Blasphemie in der öffentlichen Wahrnehmung meist nur in Verbindung mit bestimmten Religionen gebracht. Sherwood zufolge zeige das den „Filter gesellschaftlicher Vorstellungen über die Weltreligionen“, durch den auch Weltereignisse wahrgenommen oder ausgeblendet werden.

Die Ähnlichkeiten zwischen den jeweiligen Gesetzgebungen, aber auch zwischen historischen und modernen, sind, wie Sherwood aufzeigt, verblüffend. Viele Unterschiede wie etwa die stärkere Individualisierung und die Forderung gleicher Akzeptanz religiöser Gruppen kommen, so die Autorin, erst im 20. Jahrhundert auf. Entgegen der häufigen Annahme würden aber genau diese Entwicklungen nicht automatisch zu mehr Toleranz und damit einer Abschaffung der Blasphemieverbote führen.

Blasphemie als „Deckmantel der Realpolitik“

Die seit einigen Jahren weltweit gesehen wieder zunehmenden Verfahren wegen Blasphemie zeigen die gesellschaftspolitische Relevanz des Themas. Besonders deutlich wird sie auch aufgrund der mitunter drakonischen Strafen, die in manchen Ländern nach wie vor auf Blasphemie stehen. Blasphemie erweise sich dabei häufig als „Deckmantel der Realpolitik“.

Ein Plakat mit dem gezeichneten Gesicht von Raif Badawi, das seine Freilassung fordert
APA/AFP/Tobias Schwarz
Raif Badawi wurde wegen seines Onlineforums „Das Liberal-Freie Netzwerk“ verurteilt

Als Beispiel verweist Sherwood auf die Verurteilung des saudischen Internetaktivisten Raif Badawi wegen seines Onlineforums „Das Liberal-Freie Netzwerk“, einer Website über Politik und Religion in Saudi-Arabien. Weil er Religionsfreiheit forderte und weiters, den Islam mit anderen Religionen gleichzusetzen, wurde er zu zehn Jahren Haft, 1.000 Peitschenhieben, einer Geldstrafe von einer Million Riyal und einem zehnjährigen Ausreiseverbot nach Beendigung seiner Haftstrafe verurteilt.

Kein religiöses Verbrechen

Obwohl zahlreiche Wörterbücher Blasphemie als „frevelhafte Rede“ über „Gott oder heilige Dinge“ definieren, zeigen gerade diese Fälle deutlich, dass Blasphemie kein religiöses Verbrechen ist, so Sherwood. Denn letztlich gehe es dabei stets um Machtfragen, häufig auch um Fragen der Sexualität. Kritik und Verurteilungen derartiger Äußerungen können so auch von nicht religiöser Seite drohen.

Als Beispiel nennt Sherwood die Zeichnung „Christus am Kreuz mit Gasmaske“ (1928), mit der George Grosz den deutschen Nationalismus kritisierte. Grosz wurde wegen Gotteslästerei angeklagt und mit einer Geldstrafe belegt. Nachdem Grosz zunächst wieder freigesprochen, dann erneut angeklagt wurde, wurden seine Werke von den Nationalsozialisten später in der Antiausstellung „Entartete Kunst“ ausgestellt, die Kunstwerke zeigte, die „das deutsche Gefühl verletzt hätten“.

Unwissenheit und Missverständnisse

Doch nicht immer liegen Blasphemievorwürfen Konflikte zugrunde. Sherwoods Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit zeigen, dass auch Unwissenheit, Irrtümer und Missverständnisse zu Vorwürfen der Blasphemie führen können. So war es etwa bei jener Nike-Kollektion, die das Wort „Air“ in arabischer Schrift auf Sohle und Oberseite des Schuhmodells gedruckt hatte.

Weil der Schriftzug der arabischen Kalligrafie des Wortes „Allah“ zum Verwechseln ähnlich sah, startete eine Muslima eine Petition, in der sie Nike Blasphemie vorwarf. Durch die Verwendung der Zeichen auf der Sohle würde im übertragenen Sinne auf Allah herumgetrampelt und der Name Gottes in den Schmutz gezogen. Nike nahm den Vorwurf ernst, entschuldigte sich öffentlich und rief an die 38.000 Schuhe zurück. Ein ähnlicher Fall ereignete sich 2011 im Libanon, wo Christen und Christinnen einem Verkäufer Blasphemie vorwarfen, weil er Flip-Flops verkaufte, auf denen unter anderem ein Kreuz abgebildet war.

Blasphemie in Europa

Jüngere Blasphemievorwürfe zeigen Sherwood zufolge auch, dass das religiöse Allgemeinwissen sinkt – ebenso das Wissen um die Geschichte. So hat Sherwood die Erfahrung gemacht, dass viele schockiert sind, wenn sie „vom Ausmaß der Blasphemieverfolgung in Europa erfahren“. Noch 1920 wurde John William Gott in Großbritannien aufgrund von Blasphemie verhaftet. Mit Blick auf die sozialen Missstände seiner Zeit in Großbritannien hatte er die christlichen Kirchen kritisiert, denen er Mitschuld daran gab, dass sich die soziale Lage nicht verbesserte.

Ebenso vergessen sind Fälle wie jener von Richard Carlile, der 1819 sechs Jahre wegen Blasphemie in Großbritannien im Gefängnis saß, weil er in seinen Zeitungen Werke des „revolutionären politischen Theoretikers“ Tom Paine ebenso wie Witze über die Heilige Schrift und die Liturgie veröffentlicht hatte.

Cover des Buches „Das Leben des Jesus“ von Gerhard Hader
APA/Ueberreuter Verlag
Das Verfahren gegen Gerhard Haderer prüfte den Vorwurf der „Herabwürdigung religiöser Lehren“ aufgrund seines Buches „Das Leben des Jesus“

Auch Österreich hat im Strafgesetzbuch mit Paragraf 188 einen Blasphemieparagrafen. Zu den bekannteren Fällen zählt der Prozess gegen den Karikaturisten Manfred Deix, der 1994 in erster Instanz verurteilt, in zweiter Instanz freigesprochen wurde. Noch 2002 kam es gegen den Karikaturisten Gerhard Haderer wegen seines Buches „Das Leben des Jesus“ zu mehreren Anzeigen. 2003 wurde das Verfahren von der Staatsanwaltschaft Wien eingestellt.

Frage der Intention

Wie die Beispiele Sherwoods deutlich machen, spielt auch die Frage nach der Intention von vermeintlicher Blasphemie eine zentrale Rolle. Es mache einen Unterschied, ob „man sich über herrschende religiöse Autoritäten im eigenen Land“ lustig macht, weil man sich für geistige Freiheit und sozialen Fortschritt einsetzt oder gegen die Unterdrückung der weiblichen Sexualität oder gegen Kriege protestiert, oder ob man sich über „heilige Wahrheiten und Persönlichkeiten religiöser und ethnischer Minderheiten“ lustig macht.

Die Geschichte der Blasphemie werde, gerade wenn Blasphemie nur dazu diene, „Clickbait“ und „Likes“ zu generieren, völlig vergessen. Blasphemie als reine Provokation übersieht zudem den mitunter mutigen Kampf vermeintlicher Blasphemikerinnen und Blasphemiker für mehr Freiheit und Toleranz und kann ihnen sogar schaden. Sherwoods Buch leistet einen wichtigen Beitrag, um die mitunter emotional geführten Debatten über Religion, Macht und Autorität einordnen und verstehen zu können.