Zwei Menschen mit Computern vor blauem Hintergrund
APA/dpa/Armin Weigel
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Österreich

Wie sich die „Sekten“-Landschaft verändert

Seit 25 Jahren gibt es in Österreich eine eigene Informationsstelle zu „Sekten“. Zunehmend bekommt sie aber auch Anfragen zu Manipulation im Internet, Pyramidensystemen und Verschwörungserzählungen.

Die Bundesstelle für Sektenfragen berät betroffene Menschen und Angehörige, wenn diese Sorgen über bestimmte Gemeinschaften und deren Praktiken haben. Im Gründungsjahr 1998 standen Berichte über Jugendsatanismus, Massenselbstmorde in abgeschotteten Gemeinschaften, die mehrfach prophezeiten Weltuntergangstermine rund um den Millenniumswechsel und einzelne religiöse Gruppen im Fokus medialer Berichte. Damals wurde die Stelle eingerichtet. Sie ist eine der wenigen staatlichen Stellen für derartige Fragen in Europa.

Das Aufgabengebiet der Einrichtung hat sich im Lauf der Zeit verändert. In den letzten Jahren gebe es neben Anfragen zu neureligiösen Bewegungen vermehrt welche zu Esoterik, zu bestimmten Lebenshilfeangeboten und zu fundamentalistischen Strömungen. Besonders in den letzten drei Jahren stiegen die Anfragen zu Verschwörungstheorien, sozialutopischen Aussteigergruppen, aber auch zu Multilevel-Marketing (Pyramiden- bzw. Schneeballsysteme), sagt Ulrike Schiesser, Geschäftsführerin der Bundesstelle für Sektenfragen im Gespräch mit religion.ORF.at.

Keine Gutachten, aber Warnungen

Obwohl im Namen enthalten, wird seitens der Beratungsstelle nicht von „Sekten“ gesprochen. Der Begriff rufe negative Konnotationen hervor. Es würden „spezifische Merkmale und Strukturen sowie Erfahrungen“ mit Gruppierungen und Auswirkungen von Gruppierungen auf einzelne Personen untersucht. „Mit dieser differenzierten Vorgangsweise sollen Pauschalisierungen weitgehend vermieden werden“, so die Website der Beratungsstelle.

Gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften sowie deren Einrichtungen fallen nicht in den Zuständigkeitsbereich der Bundesstelle, dennoch gebe es immer wieder auch dazu Anfragen. Gutachten über Gemeinschaften werden nicht erstellt, es können aber Warnungen ausgesprochen werden. Die Dokumentationen fließen in Stellungnahmen und Jahresberichte der Einrichtung ein.

Pyramidensysteme

Besonders stachen laut einem kürzlich veröffentlichten Tätigkeitsbericht Aktivitäten auf Social-Media-Kanälen hervor, die sich speziell an junge Menschen richten. Mit realitätsfernen Versprechen, viel Geld in kurzer Zeit zu verdienen, werden vor allen junge Menschen geködert, die in Unterlagen, Seminare und andere (Schein-)Produkte viel Geld und Zeit investieren.

In einigen Fällen habe das sogar bis zum Schulabbruch geführt, so Schiesser. Bei Schneeballsystemen geht es nur nebensächlich um Produkte und in der Hauptsache um das Anwerben neuer Vertriebspartner. Es müssen immer mehr neue Partner gefunden werden, um das System zu finanzieren (Pyramiden- bzw. Schneeballsysteme; auch Multilevel-Marketing genannt). Die Praktiken werden vom Umfeld als „sektenartig“ wahrgenommen.

Ein Bursch mit Kopfhörern vor einem Computer
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Besonders junge Menschen laufen Gefahr, in den Sog sektenartig agierender Betrüger zu geraten

Mit fragwürdigen Angeboten und Methoden würden auch diverse „Erfolgscoachings“ werben, an deren Nichterfolg man selbst schuld sei – wegen eigener „Erfolgsblockaden“, berichtet die Expertin. Auch diese Coachings sind sehr kostspielig.

Verdeckte Mission

Seit etwa 2020 versuchen neureligiöse Bewegungen verdeckt über Partnerbörsen, Studentenaustauschplattformen und harmlos klingende Facebook-Seiten auf Mitgliederfang zu gehen. Likt man beispielsweise Sprüche- oder Rezepteseiten, kann es sein, dass man von fremden Profilen zu einer Art Onlinegottesdiensten eingeladen werde, berichtete Mimikama, ein Verein zur Aufklärung über Internetmissbrauch. Ein Beispiel dafür ist die „Kirche des allmächtigen Gottes“ aus China.

Auf Fragen zur Gemeinschaft wird in der Regel nicht eingegangen, die Identität dieser Gruppen sei nicht klar, und die eigentlichen Ziele blieben im Dunkeln, so Mimikama. Die Nutzer würden durch einfache Fragen oder emotionale Bilder zur Interaktion verleitet. Es bestehe der Verdacht, dass auf diese Weise Mitglieder angeworben werden sollen. Propagiert wird dann ein Weltuntergangsszenario, dem man nur im Schoß der fundamentalistischen Glaubensgemeinschaft entgehen könne.

Finanzielle Interessen

Die Folge können finanzielle Ausbeutung und Kontaktabbruch zu Freunden und Familie sein, so Schiesser. Einige Gruppen bringen ihre Mitglieder dazu, die gesamte Außenwelt abzulehnen. Hintergrund für derartige Praktiken sind letztlich finanzielle Interessen. Denn mehr Mitglieder bedeuten auch mehr Geld, sagt die Expertin.

Religiöse bzw. spirituelle Gemeinschaften hätten grundsätzlich sehr wichtige soziale Funktionen, betont die Leiterin der Bundesstelle. Religiöse Machtstrukturen könnten allerdings nicht nur schützen, sondern auch schaden.

Verschwörungstheorien in unsicheren Zeiten

Weitere Themen der Bundesstelle für Sektenfragen sind in den letzten Jahren verschiedene Verschwörungstheorien. Sie haben laut Tätigkeitsbericht in unsicheren Zeiten mit Kriegen, hohen Energiekosten und gestiegenen Preisen für das alltägliche Leben Hochkonjunktur. Das Gefühl, bedroht und unsicher zu sein, bilde einen Nährboden für Heilsversprechen aller Art, schreibt die Sektenstelle in ihrem Jahresbericht für 2022.

Alle genannten Phänomene müssen nicht, können aber Elemente, Ideologien bzw. Praktiken verfolgen, die Menschen schädigen und sie einengen können.

Wann es problematisch werden kann

Als Kriterien, ob eine Gemeinschaft oder Ideologie eine Gefährdung darstellen kann, gibt die Bundesstelle unter anderem an, ob die physische und psychische Gesundheit von Menschen und die freie Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit gewährleistet sind.

Dazu gehört auch die Freiheit zum Ein- oder Austritt aus religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften. Aber auch die Integrität des Familienlebens, das Eigentum und die finanzielle Eigenständigkeit sowie die freie geistige und körperliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen werden betrachtet.

Kein Rezept gegen Manipulation

Ein Rezept gegen manipulative Strategien gibt es nicht, aber kritisches Hinterfragen von Angeboten kann helfen, unlautere Methoden zu erkennen. Wenn (Heils-)Versprechen zu schön klingen oder aber eine allzu dystopische Weltsicht propagiert wird, wenn Geheimniskrämerei betrieben und auf konkrete Fragen nicht eingegangen wird oder wenn – wie im Falle kostspieliger Selbstoptimierungscoachings – versprochene Geldsummen allzu hoch sind, ist Vorsicht geboten.

Die Einrichtung ist der Bundesministerin für Umwelt, Jugend und Familie unterstellt, aber in keinem Ministerium angesiedelt, sondern als Anstalt öffentlichen Rechts selbstverwaltet und „weisungsfrei und konfessionell unabhängig“, betont Schiesser. Rund 12.900 Beratungsfälle wurden laut einer Aussendung in den vergangenen 25 Jahren registriert, mehr als 38.000 Personen seien betreut und Anfragen zu insgesamt 3.400 unterschiedlichen Gemeinschaften, Organisationen und Themen beantwortet worden. Ein multidisziplinäres Team aus acht Personen ist derzeit für Beratung und Dokumentation zuständig.