Lebenskunst 31.12.2023, Mirja Kutzer

Bibelessay zu Lukas 2,22-20

Mir ist Hanna, von der der Evangelist Lukas hier erzählt, erst sehr spät begegnet. Seltsam eigentlich, denn Hanna ist ja nicht irgendwer. Sie ist eine Prophetin und gehört damit in eine prominente Reihe. Von Moses über Jesaja und Elija bis hin zu Hosea und Maleachi – ihnen allen sind in der Hebräischen Bibel, dem christlichen Alten Testament, ganze Bücher gewidmet.

Neben diesen allesamt männlichen Superstars kennt die Bibel auch noch ein paar andere, darunter auch einige Frauen. Zu ihnen gehört Mirjam, die Schwester des Moses; Debora, die Richterin und Heerführerin; Hulda, die als Prophetin die Wahrheit einer Buchrolle beglaubigt. In dieser Reihe steht schließlich auch Hanna – die einzige Frau im Neuen Testament, die den Titel Prophetin trägt.

„Und wartete auf den Trost Israels“

Unumwunden traut der Evangelist Lukas Frauen wie Männern zu, dass sie vom Geist Gottes berührt, dass sie begeistert sind. So wie mir als Kind und auch noch später die Bibel vermittelt wurde, stand die Prophetin Johanna, wie Hanna manchmal auch genannt wird, freilich völlig im Schatten von Johannes dem Täufer. Denn schließlich hat Johannes ja auf Jesus verwiesen und verkündet, dass da ein ganz Besonderer kommt. Aber Moment, hat Hanna das nicht auch getan? Sie „sprach über das Kind zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten“, so heißt es im Text.

Mirja Kutzer
ist katholische Theologin und lehrt an der Universität Kassel

Auch Hanna verkündet Jesus als denjenigen, auf den alle warten, als den Messias, der das Leben zum Besseren wendet. Die christliche Überlieferung freilich hat von dieser Prophetin recht wenig geredet. Sie teilt das Schicksal mit vielen anderen Frauen, die beschwiegen wurden oder aus den Texten verschwunden sind. Denn Frauen, die das Wort Gottes verkünden und auslegen, die in ihrer Rede gar Gott selbst repräsentieren – sie wollen nicht passen zu einer Kirche, die all das Männern vorbehalten hat. Dabei könnten wir, nicht nur Christinnen und Christen finde ich, gerade von Hanna so viel lernen – selbst aus den wenigen Zeilen, die der Text über sie sagt und die doch eine Lebensgeschichte hervortreten lassen.

Neues entdecken

Hanna, die Tochter Penuels aus dem Stamm Ascher, heiratet als junges Mädchen. Als ihr Mann sieben Jahre später stirbt, ist sie immer noch eine junge Frau. Es läge nahe, dass sie wieder heiratet, denn als Witwe ist sie sozial nicht abgesichert, schutzlos. Doch Hanna geht einen anderen Weg. Sie legt ihr Leben nicht in die Hände eines Mannes, sondern verbringt ihre Zeit im Tempel und damit an dem Ort, an dem sich Menschen Gott besonders nahe fühlen. Sie fastet und betet, und die Zeit geht ins Land. In der Gegenwart des Textes ist sie eine steinalte Frau.

Und dann, nach all dieser Zeit, geschieht das Überraschende: Hanna entdeckt Neues. Nach Jahrzehnten der Askese hat sie nicht den Blick dafür verloren, was um sie herum geschieht. Sie ist nicht weltabgewandt oder gar verknöchert geworden. Ganz im Gegenteil: Sie hat Raum geschaffen, damit Neues geschehen kann. Hier zeigt sich die Wirkung von Askese im besten Sinn: Wer nach Lukas den Geist empfangen will, der muss leer werden von den Gewohnheiten, dem Alltagskram, den ständig wechselnden Bedürfnissen.

Andere Möglichkeiten sehen und Raum schaffen

Lebenskunst
Sonntag, 31.12.2023, 7.05 Uhr, Ö1

Noch den Weihnachtstrubel in den Knochen, leuchtet mir das unmittelbar ein. Denn wenn ich so gar keinen Raum zur Verfügung habe, dann könnte das Neue, Rettende, Heilsame auch einfach an mir vorüberspazieren, und ich würde es gar nicht merken. Und wenn der Raum fehlt, um andere Möglichkeiten zu sehen, dann würden alle einfach weitermachen wie bisher – mit dem Raubbau an uns selbst und mit der Blindheit für den Anderen im Kleinen, mit der Zerstörung unserer Erde und den Konflikten und Kriegen im Großen.

Am Ende des alten Jahres und das neue vor Augen freue ich mich an der Perspektive, Raum zu schaffen für Neues, Rettendes, Heilsames. Ich bin aber auch froh, dass wir nicht alle Prophetinnen und Propheten werden müssen. Denn Hanna hat unglaublich viel Raum geschaffen, fast ein ganzes Leben zur Verfügung gestellt und schließlich in dem Kind das Rettende entdeckt. Wir könnten in einem ersten Versuch, so denke ich mir, einmal Hanna mehr Raum geben. Und dann vielleicht spüren, dass Menschen wie sie das Rettende auch für uns, für jeden von uns, entdeckt haben.