Debatte

Theologe: „Man kann nicht nicht gendern“

„Man kann nicht nicht gendern“: Mit dieser Feststellung in Anlehnung an Paul Watzlawicks „Man kann nicht nicht kommunizieren“ hat sich der Wiener Moraltheologe Gerhard Marschütz in der aktuellen, von ÖVP-Bundeskanzler Karl Nehammer befeuerten Genderdebatte zu Wort gemeldet.

„Egal, in welcher Form ich spreche, habe ich immer ein bestimmtes Verständnis von Geschlecht, das ich auch in die Sprache einbringe“, erklärte Marschütz, der sich intensiv mit Geschlechterrollen und Genderfragen auseinandersetzt und dazu unlängst das Buch „Gender-Ideologie!? Eine katholische Kritik“ veröffentlicht hat, im Interview mit der Kooperationsredaktion österreichischer Kirchenzeitungen.

Eine „neutrale Sprache“ in Bezug auf Geschlechter und deren Verständnis in der Gesellschaft gebe es so gesehen nicht. Marschütz erachtet es als notwendig, „dass wir unseren Normalitätsbegriff erweitern“. Sozialwissenschaftliche Studien zeigten, dass sich 90 Prozent der Bevölkerung im heterosexuellen, komplementären Schema Mann-Frau wiederfinden würden, während das bis zu zehn Prozent aus unterschiedlichen Gründen nicht könnten.

Buchhinweis

Gerhard Marschütz, „Gender-Ideologie!? Eine katholische Kritik“, Echter-Verlag, 240 Seiten, 29,90 Euro.

Genderforschung für mehr Gerechtigkeit

Erst in den vergangenen Jahrzehnten sei die gesellschaftliche Überzeugung gereift, dass diese nicht „krank“ seien, „sondern im Bereich der Normalität gesehen werden müssen, auch wenn sie statistisch gesehen in der Minderheit sind“.

Marschütz, der bis 2021 an der Universität Wien lehrte, wies auf den Anspruch der Genderforschung hin, durch die Analyse soziale Ausprägungen der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern „mehr Gerechtigkeit zu erreichen“. Katholische Kreise bis hin zum Vatikan würden dem mit einem „Grundmisstrauen“ begegnen und auch vor Unterstellungen vermeintlicher Gleichmacherei von Mann und Frau nicht zurückschrecken.

Kirche fürchtet Gleichmacherei

So habe Papst Franziskus in seiner Neujahrsansprache vor Vatikanbotschaftern und -botschafterinnen am 8. Jänner erwähnt, dass die Gender-Theorie „sehr gefährlich ist, weil sie mit ihrem Anspruch, alle gleich zu machen, die Unterschiede auslöscht“.

Das stimme jedoch so nicht, wandte der Theologe ein: „Der Papst nimmt hier ein Verständnis von Gender an, das die Gender-Philosophin Judith Butler selbst als unannehmbar bezeichnen würde. Er meint, dass Gender das biologische Geschlecht auslöscht und rein sozial verstanden wird, und dass es jederzeit frei wählbar ist, jenseits der Biologie. Aber wo hat er das gelesen? Keine Genderforschung vertritt das so.“

Geschlechterungleichheit mehr sozial als biologisch

Allerdings sehe die Genderforschung die Ungleichheit der Geschlechter tatsächlich weniger in der Biologie begründet als im sozialen Gefüge. Demgegenüber sei das traditionelle katholische Menschenbild noch stark von biologistischen Auffassungen vergangener Jahrhunderte geprägt, sagte Marschütz.

„Man meinte, dass Frauen für Innerlichkeit und Wohnlichkeit zuständig wären, weil ihre Geschlechtsorgane auch innen liegen würden, wohingegen der Mann für den Außenbereich zuständig sei.“ Die lehramtliche Anthropologie, das katholische Menschenbild sei stark von der Gegenüberstellung von Mann und Frau geprägt, die einander ergänzen. Das entspreche dem menschlichen Bedürfnis nach einem gewissen „Ordnungsdenken“, räumte der Theologe ein.

„Wunderbar komplexes Leben“

„Aber Ordnung ist nur das halbe Leben. Was ist die zweite Hälfte?“ Papst Franziskus selbst halte in seinem Lehrschreiben „Evangelii Gaudium“ fest, dass das Leben wunderbar komplex werde, wenn man mit dem konkreten Leben anderer Menschen ernsthaft in Berührung komme.

Bei genauem Hinsehen sei der Ideologievorwurf seitens der katholischen Kirche, mit der Gendertheorie werde das Geschlecht losgelöst von biologischen Vorgaben und so frei wählbar, nicht haltbar. Laut Marschütz trifft vielmehr zu: „Was die Kirche über Gender sagt, sagt mehr über die Kirche als über Gender aus.“