Menschen halten einander an den Händen
Pixabay/amosii
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Rezension

„Entfeinden“: Wider die Kriegsrhetorik

Angesichts zunehmender Kriegs- und Aufrüstungsrhetorik erinnert der deutsche Psychologe und evangelische Theologe Stefan Seidel in seinem neuen Buch „Entfeindet Euch!“ an die menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten, an einem friedlichen Leben zu arbeiten.

Mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine sei eine „Zeitenwende“ ausgerufen worden, und mit ihr ein militärisches Aufrüsten. „Binnen kürzester Zeit griff eine Gewöhnung an Waffen Raum, die bis vor Kurzem noch undenkbar schien. Mit ihnen verbindet sich ein regelrechter Heilsglaube“, analysiert Seidel. Künftig solle nicht mehr der Leitspruch „Wir und die anderen“ gelten, sondern „Wir oder die anderen“. Nicht militärische Logik gerate dabei zwangsläufig ins Abseits.

Zudem ortet der Autor ein um sich greifendes Denken in den Kategorien „richtig“ und „falsch“. Zum Kriegführen brauche es Feindbilder, die durch „einseitige Schuldzuschreibung, Betonung negativer Merkmale des anderen, Pauschalbewertungen, doppelte Standards, Dehumanisierung und Delegitimierung des anderen herbeigeführt würden“, zitiert er den Psychologen Gert Sommer. Diese Spirale will Seidel durchbrechen und liefert dafür gute Gründe.

Stefan Seidel
Steffen Giersch
Stefan Seidel: Psychologe, evangelischer Theologe und Autor

Ungerechtigkeiten als Ursachen

Als einen der Gründe für die Spaltungstendenzen und Feindschaften nennt Seidel die Ungerechtigkeit der globalisierten Wirtschaft. „Feindschaft fällt nicht vom Himmel. Sie erwächst aus Spannungen, die sich zu Spaltungen und Polarisierungen auswachsen.“ Seidel zitiert in diesem Zusammenhang den indischen Schriftsteller Pankaj Mishra, der davon spricht, dass ein „globaler Bürgerkrieg“ herrsche, der aus einer eskalierten Konkurrenz erwachse, die die Welt und die Gesellschaften in Gewinner und Verlierer aufspalte.

Wer sich als schwach, unterlegen und benachteiligt empfinde, entwickle Mishra zufolge häufig Angst, die sich nicht selten in Zorn verwandle: „Zorn vor allem gegen Minderheiten, die als Sündenböcke für die politischen und ökonomischen Erschütterungen herhalten müssen“, schreibt Seidel.

Plädoyer für die Menschlichkeit

Anders als in dem von Stephane Hessel 2010 veröffentlichten Buch „Empört Euch!“ (auf das sich der Titel offenbar bezieht), ruft Seidel nicht zum (friedlichen) Widerstand auf, sondern regt zu einem innerlichen Schritt zurück an. Wesentlich sei die Anerkennung der Würde aller Menschen. „Entscheidend dafür ist, dass die Menschlichkeit durchgehalten wird.“

Gegen eine mit Kriegslogik einhergehende Entmenschlichung von „Feinden“ wendet sich der Theologe auch mit Verweis auf die Bibel, denn: „Böses kann nicht mit Bösem überwunden werden.“ Die christliche Lektion laute, Frieden komme nicht durch Macht, Könige und Soldaten, sondern durch Herrschafts- und Gewaltverzicht. „Frieden kommt durch Entfeindung.“

Buchcover zu Stefan Seidels „Entfeindet Euch! Auswege aus Spaltung und Gewalt“
Claudius Verlag
Stefan Seidel: Entfeindet Euch! Auswege aus Spaltung und Gewalt. Claudius 2024, 120 Seiten, 20,95 Euro.

Kooperatives Menschsein

Mit zahlreichen Referenzen – unter anderem auf Judith Butler, Hannah Arendt, Martin Buber und die Bergpredigt aus dem Zweiten (Neuen) Testament – weist der Autor darauf hin, dass ein Leben auf der Erde im Grunde nur in Kooperation mit den anderen gerade lebenden Menschen funktioniert.

Der entscheidende Bezugspunkt solle nicht länger die Freund-Feind-Unterscheidung sein, „sondern das geteilte gleiche Menschsein, die geteilte gleiche Verletzlichkeit und das Bewusstsein wechselseitigen aufeinander Angewiesenseins“.

Feindschaftslogik selbstzerstörerisch

„Es ist die Botschaft fast jeder Kriegsgeneration und die der Bergpredigt, dass der Krieg an sich, der Krieg als Option prinzipiell ausgeschlossen und mit einem absoluten Bann belegt werden muss“, so der Autor. Gerade im Atomzeitalter. Das lasse sich nicht nur aus christlich-religiösen Überzeugungen, sondern auch aus der humanistischen Vernunft und einer universalistischen, zivilisatorischen Ethik heraus begründen.

Mit Bezug auf den jüdischen Philosophen Buber schreibt er, eigenes sei mit dem anderen verwoben und Spaltungs- und Feindschaftslogik daher selbstzerstörerisch. Das 1961 erstmals durchgeführte Experiment des US-amerikanischen Psychologen Stanley Milgram habe gezeigt, wie bereitwillig Menschen gegen ihr Gewissen handeln, wenn eine vermeintliche Autorität vermittelt, dass die Bestrafung einer bestimmten Person unbedingt nötig ist.

Individuelle Verantwortung

Als ein positives Beispiel nennt er die Organisation „Parents Circle“, in der israelische und palästinensische Eltern, die im jahrzehntelangen Konflikt ihre Kinder verloren haben, gemeinsam gegen die Gewaltspirale auftreten. Der Psychologe und Theologe ermutigt, sich das individuelle Verantwortungsgefühl nicht durch eine propagierte Kriegs- und Feindeslogik ausreden zu lassen.

Der Autor bietet einen gut lesbaren und auch für Nichtchristinnen und -christen interessanten psychologischen und theologischen Unterbau für eine mögliche Richtungsänderung im gegenwärtigen gesellschaftlichen Strom. Und mit dem Psychiater und Vordenker der Entkolonialisierung, Frantz Fanon, gibt Seidel die Hoffnung nicht auf: „Es gibt auf beiden Seiten der Welt Menschen, die suchen.“