Karfreitag

Ostern und die Schrecken des Mitgefühls

Kriege, Klimakrise, Katastrophen: In einer Welt permanenter Krisen kann Mitgefühl Überforderung bedeuten. Der Kreuzestod Jesu bedeutet nicht nur für Christinnen und Christen das Sinnbild der Selbstaufgabe schlechthin. Ob er sich auch als Vorbild für Normalsterbliche eignet, ist die österliche Frage.

Schlimme Nachrichten und traurige Bilder prasseln tagtäglich auf uns ein, in Social Media geht es zunehmend hasserfüllt zu – das alles könne „zu einer emotionalen Überforderung führen“, sagt die Theologin Sigrid Müller im Ostergespräch mit religion.ORF.at. Zugleich finden die so ausgelösten Gefühle kein Ventil. Die Folge: Abgrenzung, Abstumpfung, sogar Zynismus. Das ist an sich eine natürliche Reaktion: Ein Zuviel an Mitgefühl ohne ausreichende Abgrenzung macht handlungsunfähig.

„Wir stehen da vor einer riesigen Herausforderung. Unsere Gesellschaft ist stark durch Medien geprägt, vermehrt durch Bilder und Schlagzeilen, die immer die Gefühle, die Instinkte anregen – oft mit der Absicht, die Menschen enger zu binden, damit sie länger in einem bestimmten Medium oder Kanal bleiben.“ Nicht die sachliche, die Vernunftebene werde hier angesprochen, erklärt die Theologin.

Zwischen Abblocken und Überforderung

So finde sich das Individuum zwischen Abblocken und emotionaler Überforderung wieder. „Das verstärkt Mechanismen in der Gesellschaft, die dazu führen, dass man nicht miteinander denkt, sondern ‚ich gegen die anderen‘ – und dass kein echtes Zuhören mehr stattfindet.“ Social Media neigen dazu, diesen Trend zu verstärken.

Michelangelo Merisi da Caravaggio: Die Gefangennahme Christi, ca. 1602, National Gallery of Ireland, Dublin
Public Domain/Wikipedia/https://commons.wikimedia.org/wiki/File:The_Taking_of_Christ-Caravaggio_(c.1602).jpg
Caravaggios „Gefangennahme Christi“ (ca. 1602, National Gallery of Ireland, Dublin)

„Nachrichten sprechen Instinkte an“

„Die Nachrichten sprechen die Instinkte an, und dann wundert man sich, dass Menschen instinktiv reagieren. Weil sie sich angegriffen fühlen, abblocken oder unüberlegt reagieren, kommt es zu unreflektierten Reaktionen.“ Es brauche eine „gewisse innere Distanzierungsmöglickeit“, so Müller, „Einfühlungsvermögen, das Situation und Leid anderer Menschen erfassen kann, aber ohne ganz darin aufzugehen“. Dieses Angemessene ist es eigentlich, was Empathie ausmacht.

„Wenn ein Kind sich wehtut und die Eltern aus Mitleid mitweinen, können sie dem Kind nicht helfen, weil sie von der Situation völlig in Beschlag genommen sind. Es braucht diesen Schritt zurück, das Feststellen: Ich fühle mit, stelle mir aber die Frage, wie ich damit umgehen und in ein aktives Handeln treten kann“, so Müller.

Selbstschutz, um handeln zu können

Es brauche Selbstschutz, um handlungsfähig zu bleiben, denn Mitgefühl kann zu eigener Überforderung führen, und es kann auch missbraucht werden, sagt die Theologin. „Es muss mich in einem Dialog auch geben, sonst gibt es keinen Austausch.“ Die Pandemie habe die Menschen stärker „in die Haltung der Zuhörenden gezwungen, es gab kein echtes Gegenüber. Ein normaler zwischenmenschlicher Dialog fehlte, das ist besonders den Kindern abgegangen: keine Freunde, Klassenkameraden, mit denen sie sich austauschen konnten.“

Eine „gesunde Mitte, die eigentlich die Empathie wäre“, könne unter diesen Bedingungen nicht entstehen. Durch die Mediennutzung habe sich „der Blickwinkel auf globale Probleme ausgeweitet, viele Dinge sind sehr komplex, und es bleibt das Gefühl, man weiß nicht mehr, wo man etwas bewirken kann“, so Müller.

Sigrid Müller, Professorin am Institut für Systematische Theologie und Ethik an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien. Vorständin des Instituts für Systematische Theologie und Ethik.
Universität Wien/Joseph Krpelan
Sigrid Müller ist Vorständin des Instituts für Systematische Theologie und Ethik an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien

Aus diesem Gefühl der Unsicherheit heraus würden manche versuchen, die Dinge zu vereinfachen, indem Schwarz-Weiß-Bilder entworfen und Dinge unangemessen einfach dargestellt werden. „Ohne ein gesundes Maß an eigenem Rückgrat, ohne gesundes Selbstwertgefühl ist ein Mensch leicht verführbar durch solche, die einem eine einfache Lösung anbieten“, sagt die Theologin.

Auch einmal Positives

Was hilft? Man müsse vermehrt „Räume schaffen, wo Menschen sich begegnen, wo man auch Vielfalt begegnet, zum Beispiel in Grätzltreffs, wo man sich informiert über gute Dinge, wie man einander helfen kann, und wo man Ängste abbauen kann.“ Es brauche positive Leitbilder, es sei nötig, „auch einmal Positives“ zu berichten und auch Zeit für persönliche Begegnungen zu haben. „Über schlechte Nachrichten kann man mit anderen reden, mit der Familie, den Kindern und überlegen: Was heißt das für uns, was können wir tun?“

Dann könne man überlegen, im Konkreten etwas beizutragen, etwa mittels Spenden für Hilfsorganisationen oder indem man konkret mithilft, wo Hilfe gebraucht wird. Es gehe um „Achtsamkeit: auf den anderen achten. Viele Menschen suchen ja schon danach.“

Jesus: „Ausgeprägte Empathiefähigkeit“

Zurück zum Osterereignis: „Jesus hatte sicher eine sehr ausgeprägte Empathiefähigkeit: Er konnte, wie die Bibel berichtet, die Menschen verstehen, im Innersten ansprechen“, sagt Müller. Sie zitiert eine Bibelstelle, die als „Jesus und die Ehebrecherin“ (Joh 8,1-8,11) bekannt ist. Jesus steht vor einer heiklen Situation: Eine Ehebrecherin soll verurteilt werden, nach dem Gesetz droht ihr die Steinigung.

Pieter Bruegel der Ältere: Christus und die Ehebrecherin, 1565, Courtauld Institute of Art, London
Public Domain/Wikipedia/Von Pieter Bruegel der Ältere – Web Gallery of Art:   Abbild  Info about artwork, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15452042
Pieter Bruegel der Ältere: „Christus und die Ehebrecherin“ (1565, Courtauld Institute of Art, London)

Jesus wird von den – ihm selbst nicht wohlgesinnten – Anklägern um seine Meinung gefragt und steckt in einer Zwickmühle. Er reagiert, indem er zunächst überhaupt nicht reagiert, und schreibt stattdessen etwas in den Sand. „Er wollte nachdenken über die beste Art und Weise, auf die Situation zu reagieren“, interpretiert Müller die Stelle. Erst auf hartnäckiges Nachfragen sagt er: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie“, womit die Frau gerettet ist.

Das Kreuz – Symbol für Grausamkeit?

Manchmal habe Jesus klare Worte gefunden, manchmal eine Geschichte erzählt, die die Menschen weitergebracht habe. „Jesus hat auf eine Art und Weise kommuniziert, dass die Menschen selbst den Weg in die richtige Richtung gehen können.“ Das Kreuz sei „nicht nur Symbol für menschliche Grausamkeit, sondern auch dafür, dass Jesus seinen Weg konsequent gegangen ist, mit viel Vertrauen in Gott“.

Das, was als die „menschliche Macht“ verstanden wird – Gewalt und Mord -, sei im Gegenteil „Ohnmacht, Machtmissbrauch, ein Zeichen innerer Schwäche“, so die Theologin. „Gott antwortet auf die Gewalt und Engstirnigkeit der Menschen mit einem Angebot der Liebe. Trotz der Verzweiflung gibt es die Chance auf einen Neuanfang, darauf, sich gegenseitig zu bestärken und immer wieder neu anzufangen.“

„Der Schmerz gehört zum Leben dazu, es gibt aber auch die Liebe, die das Leid durch Mitgefühl in etwas Positives verwandeln kann. Mit der Empathie habe ich die Chance, mit Liebe auf etwas zu reagieren, was zunächst einmal nicht schön ist, einen Schritt zurückzutreten und eine angemessene Reaktion zu wählen. Das ist die Einladung zur Liebe.“