Zwischenruf 15.08.2021, Johanna Schwanberg

Maria im Museum

Einmal blond, einmal braunhaarig, einmal mager, einmal füllig, einmal stärker vergeistigt, einmal stärker irdisch…

Maria – DIE Frauengestalt der abendländischen Kunstgeschichte schlechthin – hat im Laufe der Jahrhunderte viele Gesichter bekommen. Diese vielen Gesichter bilden das jeweilige Frauenbild einer Zeit ab und vergegenwärtigen, dass es einem ständigen Wandel unterliegt.

Johanna Schwanberg
ist Direktorin des Dom Museum Wien

Verzweifelte Mutter

Besonders berührt mich an den zahlreichen Marienbildnissen unserer Museums-Sammlungen, dass sie die wesentlichen emotionalen Momente des Lebens mittels Formen und Farben einfangen: die schönsten und die schmerzhaftesten. So präsentieren wir auf der einen Seite des Saals Madonnen mit dem Jesusknaben im Arm. Sie spiegeln die innigsten Augenblicke des Miteianders zwischen Mutter und Kind, wie etwa auf dem mittelalterlichen Gemälde „Maria mit der Erbsenblüte“ zu sehen, das von zärtlichen Berührungen und Blickkontakten lebt.

Auf der anderen Seite finden sich Vesperbilder – etwa die ergreifende farbig gefasste mittelalterliche „Wopfinger Pieta“. Diese vom Zahn der Zeit stark beschädigte Holzfigur geht mir immer wieder aufs Neue unter die Haut, denn sie zeigt Maria als verzweifelte Mutter, die ihren toten Sohn beweint. Pieta-Darstellungen halten ein Moment aus der Leidensgeschichte Jesu fest. Sie berühren aber auch ein Thema, das darüber hinaus jede Mutter betrifft. Denn Mutter sein, bedeutet nicht nur unendliche Liebe zu verspüren, sich täglich am Lachen des Kindes zu erfreuen, sondern auch ständig mit Angst vor Verlust umzugehen.

Schutzmantelmadonna

Zu meinen Lieblingsstücken unserer Sammlungen gehört die „Schreinmadonna“ aus den 1420er oder 1430er Jahren. Wir haben diese herausragende Mariendarstellung bewusst im Zentrum des Ausstellungsraumes aufgestellt. Denn sie verbindet Geburt und Tod. Zugleich ist sie künstlerisch wie inhaltlich eine der faszinierendsten mittelalterlichen Skulpturen, die ich kenne.

Zwischenruf
Sonntag, 15.8.2021, 6.55 Uhr, Ö1

Im geschlossenen Zustand ist die Muttergottes auf einem von Engeln getragenen Thron dargestellt; die linke Hand hielt ursprünglich vermutlich ein Zepter, die rechte Hand stützte wohl eine Jesusfigur. Öffnet man diese Mischung aus Skulptur und Schnitzaltar, ist Maria als Schutzmantelmadonna zu sehen: Sie breitet ihre Arme über die Frauen zu ihrer Rechten und die Männerfiguren zu ihrer Linken aus, unter denen beispielsweise ein Papst und ein Bischof zu erkennen sind. Diese Figuren wurden nicht wie sonst üblich gemalt, sondern als Relief ausgeführt. Im Schreininneren zeigt der Bildhauer eine besondere Darstellung der Dreifaltigkeit.

Eine große Macht

Maria tritt hier als Mutter der gesamten Menschheit auf und trug – im ursprünglichen Zustand der Skulptur – Gottvater, Gottes Sohn und den Heiligen Geist in sich. Die Gottesmutter wird als dem männlichen Prinzip übergeordnet dargestellt, vielleicht einer der Gründe, warum heute nur noch wenige dieses einst weit verbreiteten Marientypus erhalten geblieben sind.

Bei Führungen durch unser Museum bemerke ich, dass sich gerade diese Madonna als Identifikationsfigur für Frauen anbietet. Schließlich steht sie für die Bedeutung von Frauen – auch in Zeiten, in denen diese nicht im Zentrum des offiziellen welt- und kirchenpolitischen Geschehens standen. Genau das liebe ich an bildender Kunst. Bilder, Skulpturen oder Zeichnungen können nicht unmittelbar gesellschaftspolitisch verändernd wirken, aber sie haben eine große Macht. Denn sie können mittels Farben und Formen alternative Perspektiven auf die Welt – in dem Fall auf das Verhältnis der Geschlechter – zeigen und somit die Wirklichkeit entscheidend mitgestalten.