Zwischenruf 20.11.2022, Martin Schenk

Das soziale Rezept

Das Singen tut gut. Da geht es ums richtige Atmen, ums Luft holen und zum Klingen bringen

Traurigkeit

Die junge Frau atmet schwer, kann kaum schlafen und durchlebt Phasen tiefer Todtraurigkeit. Sie wird medizinisch untersucht und gut versorgt. Das Schreckliche, das sie erleiden musste, hat sich in ihren Körper eingeschrieben.

Martin Schenk

ist Sozialexperte der Diakonie Österreich

Ein Kollege, der das Anamnese-Gespräch mit der traumatisierten Patientin führt, erfährt, wie gerne sie Lieder singt, wie wichtig Musik für sie ist. So hat er die Idee, die Frau zu fragen, ob sie nicht in einem Chor singen wolle? Ob er schauen solle, wo es in ihrer Nähe Singgruppen gäbe? Die Patientin ist sich nicht ganz sicher, wagt sich aber dann doch zur ersten Chorprobe. Das Singen tut ihr gut. Da geht es ums richtige Atmen, ums Luft holen und zum Klingen bringen. „Ich fühle wieder Freude, das gemeinsame Singen ist so befreiend“, erzählt sie.

Aus der Forschung zur sozialen Dimension von Gesundheit – also der Frage, was gesund hält – wissen wir heute, dass psychosoziale Maßnahmen die Lebensqualität um bis zu 70 Prozent verbessern können – und auch einen bedeutenden Anteil an der Genesung haben.

Zwischenruf
Sonntag, 20.11.2022, 6.55 Uhr, Ö1

Soziale und Sozialstaatliche Dienstleistungen

Da gibt es jetzt eine Idee: Ärzt:innen könnten ein „soziales Rezept“ ausstellen. Damit verschaffen sie Patienten und Patentinnen Zugang zu einer Reihe von sozialstaatlichen wie sozialen Dienstleistungen oder auch selbstorganisierten Angeboten im Grätzel. Das Singen im Chor wäre eine solche soziale Verschreibung.

Sie könnten im Falle des Falles aber auch ein Rezept für einen Theaterbesuch oder eine geführte Wanderung erhalten. Vielleicht ist aber das beste Medikament gerade für Sie ein Tagebuch, in dem Sie Ihre Gefühle und Geschichten niederschreiben.

Das „soziale Rezept“ zielt darauf ab, die persönlichen Interessen oder Leidenschaften einer Person anzusprechen. Jeder fünfte Patient, Patientin sucht den Hausarzt nicht in erster Linie wegen eines medizinischen, sondern wegen eines sozialen Problems auf. Da geht es um Einsamkeit, finanzielle Not oder Arbeitslosigkeit. Die soziale Verschreibung würde hier zur Beantragung von Sozialleistungen oder zum Versuch, die Wohnsituation zu verbessern, führen. Wesentlich dabei ist regionale Zusammenarbeit aufzubauen, etwa mit Angeboten der Gesundheitsförderung, Wohnungslosenhilfe und Schuldnerberatung.

In Großbritannien, woher die Idee des „social prescribing“ kommt, wird ein „Linkworker“ eingesetzt, der die Vermittlungsarbeit leistet. Verlinken heißt verbinden. Der Arzt überweist zum Linkworker, der dann mit dem Patienten die konkrete soziale Verschreibung entwickelt und organisiert.

Erste Ergebnisse aus Pilotversuchen mit einer solchen sozialen Verschreibung in Österreich zeigen: Soziale Rezepte reduzieren Angst und Überforderung, verringern Einsamkeit und Ohnmacht. Eine Patientin daraus sagt: „Das tut schon gut, wenn man mal jemanden hat, wo man sich austauschen kann, wenn man unter andere Leute kommt und nicht immer zuhause sitzt in den eigenen vier Wänden.“ Das soziale Rezept schließt eine offene Wunde im Gesundheitssystem. Wir brauchen nicht nur ein ver-sorgendes, sondern auch ein mit-sorgendes Netz.