Zwischenruf 12.11.2023, Gerhard Langer

Vom Leben

Vor wenigen Tagen jährten sich die schrecklichen Novemberpogrome vom Jahr 1938, bei dem in Deutschland und Österreich hunderte Jüdinnen und Juden ermordet und 1400 Synagogen und Versammlungshäuser zerstört wurden.

Wenig später deportierte und internierte man Zehntausende. Die Erinnerung an diese Ereignisse ist nach dem 7. Oktober 2023, dem Pogrom, das radikaler islamistischer Terror an Israelis verübte, auf erschreckende Weise aktualisiert worden.

Gerhard Langer
ist Judaist und katholischer Theologe

„Wir leben ewig“

In der jüdischen Liturgie wird der Märtyrerinnen und Märtyrer gedacht, der alten und der jungen. Feindschaft, Bedrohung und Vernichtung begleiten das Judentum seit seinen biblischen Anfängen. Und dennoch haben Jüdinnen und Juden in den letzten Jahrtausenden keine Kultur des Todes und der Verzweiflung entwickelt, sondern stets das Leben in den Mittelpunkt gestellt. Lejb Rosenthal komponierte noch 1943 im Ghetto Vilnius, kurz vor Räumung des Ghettos und seiner eigenen Ermordung, eines der bekanntesten Lieder des jüdischen Protestes gegen die Kultur des Todes:

In ihm heißt es: Wir leben ewig! Es brennt eine Welt!
Wir leben ewig ohne einen Groschen Geld.
Allen Feinden zum Trotz.
Die uns anschwärzen.
Wir leben ewig, wir sind da.
Wir leben ewig in jeder Stunde.
Wir wollen leben und erleben.
Und schlechte Zeiten überleben.
Wir leben ewig! Wir sind da!

Und in zahlreichen Gedenkreden anlässlich des von der Hamas durchgeführten Pogroms an Jüdinnen und Juden hieß es: Am Jisrael chaj – Das Volk Israel möge leben, lebt und wird leben.

Zwischenruf
Sonntag, 12.11.2023, 6.55 Uhr, Ö1

Leben schenken

Niemals entwickelte das Judentum eine Tendenz, den Tod zu suchen, und schon die Bibel betont, dass auch die göttlichen Weisungen, die das Volk täglich und unaufhörlich befolgen und sie den Kindern lehren soll, den Zweck haben, Leben zu schenken. Mehrere jüdische Feste können, wie es einst ein Student von mir formulierte, auf die Formel gebracht werden: Sie haben versucht uns zu vernichten, wir haben überlebt, lasst uns feiern. Das mag paradox klingen, trifft jedoch einen wichtigen Punkt.

Die Alternative wäre eine Kultur des Todes. Terroristen und Selbstmordattentäter huldigen dem Tod des zum Feind erklärten anderen und nehmen ihren eigenen Tod auf sich – nicht selten mit fanatischer Gewissheit eines besseren Lebens im Jenseits.

Bücher statt Waffen

Ich bin überzeugt: niemals kann die Verachtung des Lebens im Hier und Heute eine Basis sein, um Leben in einer anderen Welt zu gewinnen, nicht einmal, um sich dort Trost zu suchen. Nur die Bejahung des Lebens, nur das zähe Ringen um Leben trotz Widerständen, trotz Anfeindung, trotz aller Widrigkeiten, ist ein wirksames Rezept gegen eine von Ängsten und Endzeitszenarien geprägte Gegenwartskultur. Leben bedeutet für mich auch, das Beste aus sich herauszuholen, den Kindern die beste Ausbildung zu ermöglichen, nicht festzukleben im Zorn, sondern mit Kreativität, Erfindergeist, wissenschaftlichem Optimismus und Mut eine lebenswerte Zukunft zu ermöglichen.

Vielleicht sogar gemeinsam, wie etwa im jordanischen Zentrum für Materialforschung, an dem Forschende aus Israel, Jordanien, dem Iran, und anderen Ländern nördlich von Amman seit 2017 zusammenarbeiten – in Zeiten des Krieges ein Hoffnungszeichen. Man könnte ja einmal damit beginnen, Kindern keine Waffen in die Hände zu drücken, sondern Bücher. Was alles möglich ist, wenn Bücher im Zentrum stehen – und nicht Waffen…