Zwischenruf 10.12.2023, Matthias Geist

Über künstliche Intelligenz und die Menschenrechte

Helmut fragte. Er fragte mitten in der Nacht um 2.40 Uhr: „Hallo – ist hier jemand, der mich versteht? Nämlich … wirklich!?“. So, und immer wieder ähnlich gehört – so lautet einer der vielen möglichen Gesprächsanfänge bei der Telefonseelsorge 1-4-2.

Vielleicht nicht wörtlich, aber sinngemäß. „Wer hört mir eigentlich zu?“ meint Helmut zu mir. In der Not seiner Seele will er ein menschliches Ohr bei sich haben. Nicht alles wird gut. Aber er bleibt Mensch und wird sich selbst wieder gewiss.

Matthias Geist
ist evangelisch-lutherischer Superintendent in Wien

In einer seltsamen Welt

Wenn es dann aber vielleicht sogar mit sanftester Stimme hieße: „Ja, ich bin ChatGPT, die künstliche Intelligenz. Was kann ich für Dich tun?“ Wäre DAS ein Einstieg für ein menschliches, nahes Gespräch für einen vielleicht sehr bedürftigen Menschen? Und selbst wenn diese künstliche Intelligenz uns Menschen perfekt imitieren könnte – von Stimme, Redefluss und vom Zuhören – selbst dann bleibt das Gegenüber fremd.

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ So wurde es genau heute vor 75 Jahren festgehalten. Insgesamt 48 Länder dieser Welt haben dies am 10. Dezember 1948 unterzeichnet. Mit so deutlichem und hohem Anspruch beginnen die 30 Artikel der Erklärung der Menschenrechte. Sie sind so leicht zu verstehen. Feiern heute einen seltsamen Geburtstag in einer seltsamen und manchmal auch grausamen Welt. Wiederum ist sie so zerrüttet und zum Teil unmenschlich geworden. Diese Welt, die roh, hart, unbarmherzig, von eigener, menschengemachter Dynamik getrieben ist.

Zwischenruf
Sonntag, 10.12.2023, 6.55 Uhr, Ö1

Selbstachtung aus der Würde

Da hinein lässt sich das seelsorgerliche Gespür entwickeln, worauf es im Großen dieser Welt ankommt. Auf Freiheit und Gleichheit an Würde und Rechten. Und dazu zählt von Anbeginn an, von unserer Geburt an, dass wir gehört werden, dass uns ein Gegenüber wahrnimmt. Mit Haut und Haar, mit Stimme und Echtheit. Die Algorithmen der künstlichen Intelligenz können fast alles. Sie können menschliche Gedanken widerspiegeln, sie können Stimmen echt und praktisch unverfälscht imitieren. Sie können variieren, weil sie von Wahrscheinlichkeiten ausgehen.

Aber genau das ist der Haken. Wir sind nicht aus Wahrscheinlichkeit mit Würde und gleichen Rechten geboren. Wir sind nicht wahrscheinlich und halbherzig im Kontakt mit Menschen. Wir brauchen echte Resonanz. Wir sind im wahrhaft menschlichen Kontakt darauf angewiesen, dass sich die Wesensäußerung ganz spontan offenbart. Und zwar genau das, was im Innersten der Seele des bedürftigen Menschen ist. Auch bei Helmut und auch bei mir. Die Selbstachtung aus der Würde, die uns allen zuteilwird.