Zwischenruf 28.1.2024, Regina Polak

Die Dynamik des Antisemitismus

Am 27. Jänner fand weltweit der „Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“ statt – das Gedenken an die nationalsozialistische Massenvernichtung von mehr als sechs Millionen Jüdinnen und Juden sowie Polen, Roma und Sinti, Russen und Russinnen, Homosexuelle und Menschen mit Behinderung während des Zweiten Weltkrieges.

Ich erschrecke, wenn ich in der Antisemitismusstudie 2022 des Österreichischen Nationalrats lese, dass in Österreich ein Drittel der Bevölkerung „dagegen“ ist, „dass man immer wieder die Tatsache aufwärmt, dass im Zweiten Weltkrieg Juden umgekommen sind“. Auch ich bin immer wieder mit der Frage konfrontiert, warum man sich fast 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit der Shoa beschäftigen muss. Gefragt werde ich auch, warum sich Zugewanderte an den Holocaust erinnern sollen, sei dies doch ein deutsches bzw. österreichisches Problem.

Pflicht zur Erinnerung

Regina Polak
ist Theologin und Religionssoziologin

Meiner Erfahrung nach helfen moralische Appelle als Antwort wenig. In solchen Situationen versuche ich die Pflicht zur Erinnerung folgendermaßen zu begründen:

Aktuell wecken das Gemetzel der Hamas am 7. Oktober in Israel und der weltweit ansteigende Antisemitismus bei vielen Jüd:innen angsterfüllende Erinnerungen an die Gräuel der NS-Zeit. Dies verpflichtet mich zum gemeinsamen Gedenken mit Jüd:innen.

Durch die Erinnerung an die Shoa habe ich gelernt, wie eine gesellschaftliche und politische Dynamik aussieht, die im Massenmord endet. Ich habe verstanden, wie der Wahn des Antisemitismus in kürzester Zeit zum Glauben einer Gesellschaft und zur legitimen Grundlage von Massenmord wurde. Ich bin erschrocken, als ich erkannte, wie der Staat, die Bürokratie, die Medizin, die Wissenschaft – renommierte gesellschaftliche Institutionen – gemeinsam perfekt den Massenmord organisierten.

Für mich ist diese Erinnerung eine Mahnung, die für alle Menschen relevant ist. Sie verpflichtet mich zur Achtsamkeit gegenüber und Verantwortung für politische Entwicklungen.

Jesus von Nazareth war ein Jude

Zwischenruf
Sonntag, 28.1.2024, 6.55 Uhr, Ö1

Nicht zuletzt ist Antisemitismus auch eine Gefahr für die Demokratie. Wachsender Antisemitismus war historisch immer das erste Warnsignal, dass auch andere Minderheiten bedroht sind. Gegenwärtig sind dies in Österreich vor allem Muslim:innen und Migrant:innen.

Auch gegen diese nehmen seit dem 7. Oktober 2023 Ablehnung und Hass zu. Der Umgang mit Minderheiten aber ist DAS Qualitätsmerkmal von Demokratien, denn in einer stabilen, menschenrechtsbasierten Demokratie ist es normal, verschieden zu sein.

Die österreichische Antisemitismus-Studie zeigt, dass Menschen, die Wissen über Jüd:innen haben, deutlich weniger antisemitische Einstellungen haben – also wenn sie z. B. über den Holocaust Bescheid wissen. Auch dies ist ein Grund, warum der „Internationale Gedenktag an den Holocaust“ wichtig ist.

Und Christinnen und Christen möchte ich daran erinnern: Jesus von Nazareth war ein Jude – und hat zeitlebens nach den Vorgaben seiner Religion gelebt.