Zwei Frauen trauern nach dem Terroranschlag in Wien am Montag, 2.11.2020
Reuters/Leonhard Foeger
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Terror

Gewalt und die Verantwortung der Theologie

Es besteht ein einigermaßen breiter Konsens darüber, dass islamistische Gewalt und Terror wie der am Montag verübte Anschlag in Wien nichts mit der Religion Islam an sich zu tun haben. Doch sehen Experten auch die islamische Theologie in der Pflicht, die Gewalt im Namen Gottes zu delegitimieren.

Sofort nach dem Anschlag drückten muslimische Vereine, allen voran die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ), ihr Entsetzen und ihre Betroffenheit aus und distanzierten sich von dem Täter, der im Dunstkreis der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) agiert haben dürfte. Unter anderen verurteilte der saudi-arabische Außenminister, Adel al-Dschubeir, den Terroranschlag in Wien als „abscheuliches Verbrechen“. Der Islam sei eine Religion der Barmherzigkeit, Dschihadismus antiislamisch, ist immer wieder zu lesen.

Der Soziologe Kenan Güngör sagte im Interview mit dem ORF-Religionsmagazin „Orientierung“, er „glaube, dass alle Muslime wissen, dass es auch ein Anschlag auf sie war“. Der öffentliche Unmut gegenüber muslimischen Menschen werde steigen. Was er sich wünsche, wäre das Bekenntnis: „(…) wir stehen für eine offene und liberale Gesellschaft ein. Einstehen ist was anderes als Distanzierung.“ Das dürfe aber nicht nur ein „Lippenbekenntnis“ sein.

Soziologe und Politikberater Kenan Güngör
APA/Hans Klaus Techt
Soziologe Kenan Güngör: „Was für einen Nährboden haben wir?“

Güngör: Kritischer innerer Diskurs nötig

Es bedürfe eines kritischen inneren Diskurses, so Güngör. Die Frage sei: „Was für einen Nährboden haben wir in Teilen der muslimischen Community, die zumindest extremistische Vorstellungen begünstigen oder legitimieren?“

Sendungshinweis

Kenan Güngör spricht in der „Orientierung“ am Sonntag, 8. November 2020

Aber wie umgehen mit Menschen, die den Koran und andere islamische Quellen als Legitimation für Bluttaten heranziehen? Seit Jahren verweisen Expertinnen und Experten darauf, wie wichtig es sei, Koranstellen, die zu Gewalt gegen Andersgläubige aufrufen, in einem historischen Kontext zu sehen.

Quellen in historischem Kontext lesen

Die junge muslimische Gemeinschaft des siebten Jahrhunderts habe sich in Medina verteidigen müssen, nachdem sie angegriffen worden sei, sagte etwa der Kulturreferent der Islamischen Religionsgemeinde St. Pölten für das Land Niederösterreich, Gernot Galib Stanfel, bereits Ende 2015 im Gespräch mit religion.ORF.at – mehr dazu in „Allahu akbar“: Schlachtruf oder Friedensgruß?.

In der Geschichte des Islams sowie in den Quellen der Weltreligion findet sich allerdings viel Gewalt – ebenso, wie Güngor erinnert, wie das beim Christentum der Fall ist. Doch habe das Christentum eine „starke Säkularisierung und Humanisierung“ durchlebt. Es gebe auch im Islam Quellen, „die Gewalt ablehnen“. Er sehe „einen sehr stillen Teil der Muslime“, die sich mit all dem unbehaglich fühlten, und finde es „interessant, dass sich die nie aufstellen und mutig ihre Stimme erheben“.

Kritikkultur „nicht sehr weit entwickelt“

Ein Problem sei, „dass Kritikkultur, wenn es um den Islam geht, grundsätzlich nicht sehr weit entwickelt ist“. Kritische Auseinandersetzung finde nicht hinreichend statt. „Im Sinne der Muslime, der Zukunftsfähigkeit“ müsse das aber geschehen, so der Soziologe. Und „es wäre für Muslime selber wichtig, solche Schritte anzusetzen“.

Mehr Reflexion über Quellen und Legitimation von Terror wünscht sich auch der Wiener Theologe Jan-Heiner Tück. Der islamistisch motivierte Terroranschlag mit vier Todesopfern und 23 Verletzen sollte „auch am interreligiösen Dialog nicht spurlos vorübergehen“, meldete sich Tück am Tag nach dem Anschlag in einer Stellungnahme gegenüber Kathpress zu Wort.

„Harte, unbequeme Fragen angehen“

Es sei Zeit, dem Dschihadismus endgültig die theologische Grundlage zu entziehen und vom Koran und anderen normativen Texten der islamischen Überlieferung her klar zu machen, dass Gewalt im Namen Gottes ein Akt der Blasphemie sei. Tück: „Die guten Verbindungen, die zwischen den Kirchen und der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich bestehen, sind eine gute Basis, nun über freundliche Dialoge hinaus die harten, unbequemen Fragen anzugehen.“

Der Wiener Theologe Jan-Heiner Tück
Kathbild/Franz Josef Rupprecht
Wiener Theologe Jan-Heiner Tück: „Archaische Theologie der Gewalt“

Darüber hinaus wäre es „wünschenswert, wenn islamische Autoritäten über Solidaritätsbekundungen mit den Opfern hinaus noch einmal klarstellen würden: Die Tötung Unschuldiger ist ein Verbrechen.“ Mord im Namen Gottes sei „kein Gottesdienst, sondern Blasphemie“, so Tück.

„Semantisches Dynamit“ des IS

Der an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dogmatik lehrende Theologe verwies in diesem Zusammenhang auf die „archaische Theologie der Gewalt“, die im Hintergrund des „Islamischen Staates“ stehe und deren scharfe Unterscheidung zwischen Gläubigen und Ungläubigen eine Art „semantisches Dynamit“ bilden würde, „das den militanten Dschihadismus so gefährlich macht“.

Diese Tatsache müsse offen angesprochen und auch vor dem Hintergrund des Korans „und anderer normativer Quellen“ des Islam diskutiert werden – und zwar ohne einen Konflikt zwischen Christen und Muslime heraufzubeschwören, so Tück, der zugleich daran erinnerte, dass gerade Österreich seit dem Islamgesetz von 1912 ein Vorreiter in Sachen Integration sei.

Die wichtigste, im interreligiösen Dialog zu klärende Frage sei, wie der Islam selbst „solche Terrorakte im Namen Allahs theologisch klar und unzweideutig verurteilen kann“. Die Beteuerung, dass der Islam eine Religion der Barmherzigkeit sei, sei zwar wichtig, „reicht hier aber kaum aus“.