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ORF/CLEVER CONTENTS FILMPRODUKTION
ORF/CLEVER CONTENTS FILMPRODUKTION
Di., 2.11.2021, 22:35 Uhr, ORF 2

„Auch die Lüge lebt von Wahrheit“ und „Ihr Kampf – Irene Harand gegen Hitler“

Sie ist ein schillerndes Phänomen: die Lüge. Jeder kennt sie und doch scheint eine allgemeingültige Definition kaum möglich. Während sie in dem einen Fall Leben retten kann, wirkt sie im anderen zerstörerisch.

„kreuz und quer“

Jeden Dienstag um 22.30 Uhr in ORF 2

Doch was macht den Unterschied? Wann ist sie ethisch geboten, wann eine arglistige Täuschung? Die neue „kreuz und quer“-Dokumentation „Auch die Lüge lebt von Wahrheit“ von Karoline Thaler geht dieser Frage nach und lässt dabei ganz unterschiedliche Personen zu Wort kommen. Etwa den Schriftsteller Michael Köhlmeier, der kein Geheimnis daraus macht, dass seine große Leidenschaft den Märchen, Mythen und Sagen gilt – jener Gattung, die wesentlich auch vom Lügen, Täuschen und So-tun-als-ob lebt.

Sie war eine beeindruckende Frau, die unter großem persönlichen Einsatz versuchte, Österreich vor Adolf Hitler zu warnen und ihre Mitmenschen gegen die Nazi-Bedrohung zu mobilisieren. Das Leben der Irene Harand, 1900 in Wien geboren, steht um 23.10 Uhr im Fokus der Dokumentation „Ihr Kampf – Irene Harand gegen Hitler“, die „kreuz und quer“ im Gedenken an die Reichspogromnacht am 9. November 1938 zeigt.

„Auch die Lüge lebt von Wahrheit“

„Lügen ist nicht grundsätzlich schlecht, sondern moralisch eine neutrale Fähigkeit“, sagt die Philosophin Simone Dietz. Seit Studienzeiten beschäftigt sie sich mit den unterschiedlichen Aspekten der Lüge. Ihrer Meinung nach scheint eine prinzipielle Verurteilung der Lüge philosophisch kaum gerechtfertigt.

Das zeigt auch das Beispiel der lebensrettenden Lüge, von der die Holocaust-Überlebende Lucia Heilmann berichtet. Geboren als Kind jüdischer Eltern war sie nicht einmal neun Jahre alt, als Hitler in Wien einmarschiert ist. Reinhold Duschka, ein Freund ihres Vaters, hat Lucia und ihre Mutter in seiner Werkstätte versteckt und Nahrung und Kleidung für sie auf dem Schwarzmarkt besorgt. Seinen Lügen verdanken Lucia und ihre Mutter, dass sie das NS-Regime überleben konnten.

Doch nicht immer sind Lügen von solch hohem moralischem Wert, nicht immer retten sie Leben. Zahlreiche Beispiele zeigen, dass sie auch ganze Gesellschaften zerstören können. Der Sozialethiker und Theologe Alexander Filipović widmet sich der Lüge aus einer ethischen und theologischen Perspektive und beleuchtet so die Risiken, die Lügen mit sich bringen, und ihre Auswirkungen auf das Gemeinschaftsleben.

Inwieweit Lügen Teil der Natur sind, erklärt der Kognitionsbiologe und Verhaltensforscher Thomas Bugnyar. Seit Jahren beschäftigt er sich mit Rabenvögeln. Kaum ein Tier ist so intelligent wie sie. Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass sie wahre Meister der gezielten Täuschung sind.

Ein Film von Karoline Thaler

 „Yad Vashem“ Halle der Gerechten, mit Irene Harand.
ORF/Provinzfilm

„Ihr Kampf – Irene Harand gegen Hitler“

Irene Harand wird am 7. September 1900 in Wien geboren und wächst wohlbehütet in gutbürgerlichen Verhältnissen auf. In den Zwischenkriegsjahren hat sich die junge Frau zu einer eleganten Erscheinung im Wiener Bürgertum entwickelt. Dabei steckt sie voller Widersprüche: Sie ist konservativ katholisch, zugleich überzeugte Kosmopolitin und Frauenrechtlerin mit einem erstaunlichen internationalen Netzwerk.

Vor allem aber ist sie eine Antiideologin und politische Kämpfernatur besonderer Güte, wie ihr Lebensweg zeigen wird. Das Jahr 1926 wird zum Wendepunkt: Die Begegnung mit dem jüdischen Rechtsanwalt Moriz Zalman prägt Irene Harand und ihr politisches Engagement auf entscheidende Weise. Sie beginnt, sich gegen den erstarkenden Antisemitismus zu engagieren. Ihre Kampfansage aber gilt schließlich Adolf Hitler ganz persönlich. Ihr großes Ziel: die Welt vor Hitler warnen, zumindest aber Österreich retten.

Der Film über Irene Harand und ihren politischen Kampf lässt unter anderem Historiker zu Wort kommen, die ihr Leben und Wirken beleuchten. Um der 1975 in New York verstorbenen Protagonistin eine Stimme zu geben, bedient sich die Dokumentation eines besonderen Kunstgriffs: In einem fiktional inszenierten Fernsehinterview („New York 1962“) erzählt Irene Harand – eindringlich verkörpert von Julia Stemberger – mit authentischen Zitaten nicht nur von ihrem Kampf und den dramatischen Ereignissen in ihrem Leben. Sie gewährt durch diese besondere Art des Erzählens auch Einblicke in ihre Gefühlswelt und ihre Motive.

„Niemand musste ein Prophet sein, um zu sehen, was da auf uns hereinbrach. Ich war im Gegenteil schockiert, wie offensichtlich alles war und wie wenige darauf reagiert haben“, sagt Irene Harand (Julia Stemberger) in der Dokumentation. Hitler habe ja alles angekündigt in seinem Buch „Mein Kampf“.

Irene Harand verfasst tatsächlich eine eigene Streitschrift als „Antwort an Hitler“, in der sie dessen politische Ideen präzise analysiert und vor dem Nationalsozialismus warnt. All das aus der Überzeugung heraus, dass der Wahnsinn verhindert werden kann: „Die Frage muss doch sein: Wäre es möglich gewesen, Hitler und alles, was er über die Welt brachte, zu verhindern? (…) Ich bin der festen Überzeugung, es wäre möglich gewesen“, sagt sie rückblickend.

Sämtliche in dem fiktionalen Interview verwendeten Texte basieren auf Zitaten von Irene Harand. Auf diese Weise gelingt das eindringliche Porträt einer beeindruckenden Frau, die es wagt, sich mit Streitschriften, einer eigenen Tageszeitung und einer politischen Bewegung ganz offen gegen Adolf Hitler und die Nazis zu stellen. Am Ende bleibt ihr nur die Flucht, die ihr mit unglaublichem Glück gelingt. Nach Österreich kehrt sie spät und nur als Besucherin zurück.

Ein Film von Andreas Gruber