Der Scheinriese

Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, die Helden des gleichnamigen Kinderbuches von Michael Ende haben einige Abenteuer zu bestehen auf ihrem Weg nach Kummerland.

Zwischenruf 18.9.2016 zum Nachhören:

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Sie sind dorthin unterwegs, um die Tochter des Kaisers von Mandala, Prinzessin Li Si von den Fängen des Drachens Mahlzahn zu befreien. In der Wüste Namens „Ende der Welt“ sehen sie in der Ferne eine riesige furchterregende Gestalt. Mutig geht zunächst Lukas und dann auch der zunächst zögernde Jim dem Riesen entgegen – und je näher sie ihm kommen, desto kleiner scheint dieser. Bei ihm angekommen, sehen sie, dass er genauso groß ist, wie ein normaler Mensch. Herr Tur Tur, so sein Name, erklärt, dass er ein Scheinriese sei. Anders als jeder andere, der kleiner scheint, je weiter entfernt er ist, scheint er mit zunehmender Entfernung immer größer. In Wahrheit ist er ein gutmütiger Mensch, nur eben einsam, weil sich aus Angst niemand ihm zu nähern wagt.

Olivier Dantine
ist Superintendent der evangelisch-lutherischen Diözese Salzburg/Tirol

Berührungspunkte gegen Angst

Ich habe vor einigen Wochen an Herrn Tur Tur gedacht, als von einer Studie zu lesen war, welche die Akzeptanz der Bevölkerung für Flüchtlinge untersucht hat. Die Studie hat Orte untersucht, in denen Flüchtlinge untergekommen sind. Wie zu erwarten, herrscht keine euphorische Stimmung, viele Menschen sind über die aktuelle Flüchtlingssituation besorgt oder verärgert. Aber als Bewohner von Orten mit Flüchtlingsunterbringung darüber befragt wurden, wie die Flüchtlingshilfe und das Zusammenleben mit Flüchtlingen in der Gemeinde funktioniere, hat sich eine Mehrheit der Befragten positiv geäußert.

Zwischenruf
Sonntag, 18.9.2016, 6.55 Uhr, Ö1

Was viele Menschen schon vermutet haben, ist durch diese Studie bestätigt worden: Je näher Menschen den Flüchtlingen kommen, je mehr sie sich mit ihnen beschäftigen und je öfter sie ihnen begegnen, umso kleiner wird die Angst vor ihnen. Und damit schwindet auch die Angst vor den Herausforderungen, die die Flüchtlingssituation mit sich bringt. Die Angst vor Fremden und der Hass gegenüber Flüchtlingen werden dagegen umso größer, je weniger Berührungspunkte es mit ihnen gibt. Ist die Flüchtlingssituation also nur ein Scheinriese wie Herr Tur Tur?

Respektvoller Umgang

Das wiederum würde die Herausforderungen und die Probleme in der Integration von Flüchtlingen, die es zweifellos ja gibt, doch klein reden. Es sind gewaltige Anstrengungen von Nöten, aber gerade die Studie zeigt doch, dass gar nicht so wenige Menschen bereit sind, diese auch mitzutragen oder auch aktiv an der Integration mitzuwirken. Die Bereitschaft dafür ist nach wie vor hoch, sie sollte auch wahrgenommen und anerkannt werden.

Es gibt einen Vers in der Bibel, der mir in diesem Zusammenhang sehr wichtig geworden ist: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Timotheus 1,7) Es ist uns mitgegeben worden, was wir für die Bewältigung von Herausforderungen und Problemen benötigen. Das Schüren von Ängsten hilft niemandem weiter, umso mehr braucht es die Liebe im Sinne eines respektvollen Umgangs miteinander, und sicherlich auch gemeinsame Kraftanstrengungen.

Angst überwinden

Ganz besonders braucht es aber ein besonnenes Herangehen an auftretende Probleme. Es ist diese Besonnenheit der Verantwortlichen in den Kommunen, die statt einer hysterischen Untergangsstimmung zu einer pragmatischen Herangehensweise führt, die Probleme dann löst, wenn sie auftreten oder sich anbahnen. Sie sind es, die gemeinsam mit vielen hilfsbereiten Menschen ein gutes Zusammenleben in unserer Gesellschaft auch in herausfordernden Zeiten ermöglichen.

Übrigens: Herr Tur Tur hilft am Ende der Geschichte von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer entscheidend mit, ein ernstes Problem Lummerlands zu entschärfen: Jim Knopfs kleine Heimatinsel, sogar zu klein für einen Leuchtturm, ist durch große Schiffe bedroht, die die Insel übersehen könnten. Jim Knopfs neuer Freund, Herr Tur Tur, braucht viel weniger Platz als ein Leuchtturm, ist aber von weitem gut zu sehen und kann so Schiffe rechtzeitig vor der Kollision warnen. Es hat sich also für Jim Knopf ausgezahlt, seine Angst vor dem Scheinriesen zu überwinden.