„Aufgeklärte Medizin im digitalen Zeitalter“

Das digitale Zeitalter führt in allen Lebensbereichen zu einem Paradigmenwechsel. Der Wechsel von der analogen zur digitalen Kommunikation bleibt auch in der Medizin nicht ohne Folgen.

Zwischenruf 2.10.2016 zum Nachhören:

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Die Kombination von moderner Genetik und digitaler Informationsverarbeitung verspricht große Fortschritte in Diagnostik und Therapie. Sie führt vor allem zu einem grundlegend veränderten Verständnis von Krankheiten und ihren Ursachen. Die Digitalisierung wirkt sich aber auch tiefgreifend auf die Kommunikation zwischen Arzt und Patient wie auf die Organisation des Gesundheitswesens im Ganzen aus.

Ulrich H.J. Körtner
ist Professor an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien

Von der analogen zur digitalen Kommunikation

Wurde die Medizin klassisch als eine Kunst verstanden, so ist sie zunehmend zu einer Technik geworden. Technik bestimmt das Wesen der modernen Naturwissenschaften und somit auch einer naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin. Der medizinische Blick auf den Menschen – folglich auch auf den kranken Menschen – ist heute ein technischer. Zwischen Arzt und Patient treten zum Beispiel die modernen bildgebenden Verfahren, vom Ultraschall über die Endoskopie bis zum MRT. Durch die Digitalisierung und Big Data erreicht die Technisierung der Medizin nochmals eine neue Stufe.

Mythos und Kritik

Es mag sein, dass die Revolutionierung der Medizin durch die Kombination von Genetik und Informationstechnik ganz neue Heilungschancen eröffnet. Ältere Krankheitsmodelle gelten zum Teil als überholt. Manche Forscher sprechen vielleicht sogar von Mythen und sehen im gegenwärtigen wissenschaftlichen Fortschritt eine Form der Entmythologisierung, gewissermaßen eine medizinische Aufklärung 2.0. Aber zu einer aufgeklärten – d.h. von den Impulsen von Aufklärung und Humanismus getragenen – Medizin gehören die stete Bereitschaft zur Selbstkritik und das kritische Bewusstsein für die dialektischen Folgen der Aufklärung und des medizinischen Fortschritts.

Zwischenruf
Sonntag, 2.10.2016, 6.55 Uhr, Ö1

Kritik als entscheidendes Motiv jeder Aufklärung schließt die Skepsis gegenüber vorschnellen Heilsversprechungen ein. Es ist ja nicht auszuschließen, dass auch die digitalisierte Medizin neue Mythen produziert. Für multifaktorielle Erkrankungen wird auch die Gentechnik keine Wundermittel parat haben, und selbst wenn sich die Chancen der somatischen Gentherapie durch den Einsatz der Gen-Schere CRISPR/Cas9 deutlich erhöhen sollten, besteht Grund zur Nüchternheit.

Ethik läßt sich nicht digitalisieren

Einige der ethischen Fragen, die durch die neuen Entwicklungen aufgeworfen werden, seien kurz genannt: Die individuelle Verantwortung für den Zusammenhang von Genom und Lebensstil wächst. Eine mögliche sozialethische Folge kann darin bestehen, dass Gesundheitsrisiken immer mehr zum Problem des Einzelnen erklärt und aus dem Versicherungsschutz ausgeklammert werden, den bislang die Gemeinschaft der Pflichtversicherten garantiert. Es entstehen neue Probleme bei der Herstellung von Gerechtigkeit im Gesundheitswesen: Ist auch bei neuen kostenträchtigen Diagnose- und Therapieverfahren ohne Einschränkung der gleiche Zugang für alle garamtiert? Die Kostenfrage und die Folgen für die Verteilung der Ressourcen im Gesundheitswesen müssen offen debattiert werden.

Im Zuge dieser Diskussionen sei daran erinnert, dass in der Antike die Ethik als die Lebenswissenschaft schlechthin gegolten hat. Anders als die heutigen Life Sciences aber lässt sich die Ethik nicht digitalisieren. Und ebensowenig lässt sich der ethisch verantwortungsvolle Arzt durch das digitale Kalkül von Algorithmen ersetzen, die über den Einsatz therapeutischer Maßnahmen entscheiden. Diese Art von Technikgläubigkeit ist vielmehr selbst ein Mythos, welcher der Aufklärung bedarf, wenn Humanität weiter ein Grundprinzip der Medizin bleiben soll.