Wir lassen uns nicht im Stich

Wie in vielen anderen Wiener Kirchen gibt es auch in meiner Kirche eine Wärmestube. Einmal pro Woche stellen wir im Winter einen warmen Raum, heiße Getränke und warme Speisen zur Verfügung. Für Menschen, die in der Kälte darauf angewiesen sind. Etwa 100 Personen suchen unsere Wärmestube jeden Dienstag auf.

Zwischenruf 19.1.2020 zum Nachhören (bis 18.1.2021

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Auch am 31. Dezember hatten wir unsere Wärmestube geöffnet. Am späteren Nachmittag, als die meisten Gäste die Wärmestube bereits verlassen haben und wir schließen wollten, ist mir plötzlich ein Gast aufgefallen. Mittags ist er noch kerzengerade in die Wärmestube marschiert. Nun aber hing er zusammengesackt auf seinem Sessel. Offenbar hatte er das Alkoholverbot in der Wärmestube erfolgreich ignoriert und war jetzt dabei, seinen Rausch auszuschlafen. Ich habe daraufhin versucht, ihn zu wecken und zum Gehen zu animieren. Das Resultat davon aber war nur, dass ich mir eine Reihe von Beschimpfungen anhören durfte. Ratlos, wie wir mit der Situation umgehen sollen, habe ich mich mit einer Mitarbeiterin abgesprochen. Wir können ihn ja nicht einfach in der Kirche sitzen lassen. Ob wir die Polizei holen sollen?

Stefan Schröckenfuchs
ist Superintendent der evangelisch-methodistischen Kirche in Österreich

Keine besondere Beziehung

Da hat sich plötzlich ein anderer Wärmestubengast gemeldet - eine Frau. „Die Polizei braucht ihr nicht. Wir lassen uns gegenseitig nicht im Stich“, hat sie gesagt. Wir - damit hat sie diejenigen gemeint, die auf das Angebot der Wärmestuben angewiesen sind. Nach einer kurzen Diskussion ist der alkoholisierte Gast dann bereit gewesen, mit ihr die Wärmestube zu verlassen. Allerdings hat sie ihn nicht nur bis zur Tür begleitet. Wie ich später erfahren habe, hat sie ihn bis zur Notschlafstelle, der sogenannten „Gruft“, begleitet. Denn sie wollte sicher sein, dass er einen Schlafplatz für die Nacht hat. „Der hätte sich sonst in seinem Rausch einfach irgendwohin gesetzt und weitergeschlafen.“ Am 31. Dezember, bei etwas weniger als Null Grad.

„Wir lassen uns gegenseitig nicht im Stich.“ Dieser Satz geht mir seither immer wieder durch den Kopf. Soweit ich weiß, gibt es zwischen den beiden Gästen keine besondere Beziehung. Sie sind nicht zusammengesessen. Sie haben nicht miteinander gesprochen. Ja, sie kommen offensichtlich auch aus unterschiedlichen Herkunftsländern. Man kennt sich halt in der Szene - mehr nicht. Und dennoch die Einstellung: Ich lasse den anderen nicht im Stich. Und wenn es nötig ist, gehe ich auch noch einen Weg mit ihm. Obwohl er sich selbst in eine missliche Lage gebracht hat. Und obwohl er gerade kein sonderlich angenehmer Zeitgenosse ist.

Zwischenruf
Sonntag, 19.1.2020, 6.55 Uhr, Ö1

Aus einer anderen Perspektive

In Österreich leben wir in einem Land mit einem großartigen Sozialsystem. Darüber hinaus gibt es viele tolle Projekte und Bemühungen um ein gutes Miteinander. Doch gleichzeitig gibt es immer wieder ein Ringen darum, wer von Sozialleistungen profitieren darf, und wer nicht. Und wie viel Hilfe nötig ist - und was zu viel. Und ob man überhaupt einen Anspruch auf Hilfe hat, wenn man an der eigenen Misere selbst schuld ist. „Wer hat sich unsere Solidarität verdient?“, ist der Tenor dieser Diskussion.

Das Verhalten dieser Frau aus der Wärmestube hat mir wieder gezeigt, wie wichtig es ist, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen. Es war so leicht, in dem betrunkenen Gast nur denjenigen zu sehen, der sich nicht an die Regeln gehalten hat - und selbst schuld an seiner Lage ist. Die andere Perspektive ist, in ihm den Menschen zu sehen, der womöglich erfriert, wenn man sich nicht um ihn kümmert. Die entscheidende Frage ist darum nicht, ob jemand meine Solidarität verdient - sondern ob er sie braucht. Und die nötige Haltung dazu ist: „Wir lassen uns gegenseitig nicht im Stich.“