Dienstag, 19.1.2021, Brigitte Schwens-Harrant

Die Geschichte einer Schuld

„Ich habe die Handlung. Es ist so einfach, dass ich kaum ertrage, es eine Handlung zu nennen.“ Das notierte Patricia Highsmith 1946 in ihr Tagebuch. Sie war dabei, ihren ersten Roman „Zwei Fremde im Zug“ zu schreiben.

Die Handlung: Der Architekt Guy trifft im Zug zufällig auf Bruno. Dieser redet ihm ein, er solle Brunos Vater ermorden. Er würde dafür Guys Noch-Ehefrau töten, von der sich dieser ja ohnehin scheiden lassen wolle. Das ergäbe das perfekte Alibi für beide. Guy ist entsetzt, stimmt nicht zu. Bald wird seine Frau aber tatsächlich ermordet und die Dinge nehmen ihren Lauf.

Die Schuld ist immer anwesend

Der Roman erzählt die Geschichte einer Schuld. Aber wann beginnt die Schuld Guys? Als er einem Fremden von seinen Gefühlen und seiner Frau erzählt? Oder als er nicht zur Polizei geht, nachdem er hört, dass sie ermordet wurde? Oder erst dann, als er tatsächlich nach viel Drängen Brunos Vater umbringt?

Brigitte Schwens-Harrant
ist Literaturkritikerin, Buchautorin und Feuilletonchefin der Wochenzeitung „Die Furche“

Vor allem die zweite Hälfte des Romans stellt die Frage: Wird Guy damit fertig werden? Wird er mit der Schuld leben müssen? Womöglich Zeit seines Lebens, wie er zu ahnen beginnt? „Ich leide nicht genug!“ Das würde Guy manchmal gerne schreien. Nachts schreibt er schuldbesessene Geständnisse und wird von Träumen heimgesucht, in denen ihm Bruno erscheint.

Die Schuldgefühle zerstören auch die Beziehung zu Guys neuer Liebe. Großartig, wie Highsmith den Gang zum Traualtar beschreibt, vorbei an vermeintlich anklagenden Gesichtern. In die Beschreibung mischen sich Sätze aus Guys Weg zu seinem Mordopfer. Selbst bei der Hochzeit also ist die Schuld anwesend, „nicht zufällig und nicht für kurze Zeit, sondern als Grundbedingung, als etwas, was immer gewesen war und immer sein würde“.

Was sagte der Schriftsteller William Trevor einmal über die Literatur von Patricia Highsmith? „Es ist das Reich der Schuld und der Wirkung von Schuld, der Angst und ihrer destruktiven Möglichkeiten, der Verstellung und Verzweiflung und Unruhe“.

Buchhinweise:

  • Patricia Highsmith, „Zwei Fremde im Zug“, Verlag Diogenes
  • Andrew Wilson, „Schöner Schatten. Das Leben von Patricia Highsmith“, Berlin Verlag

Musik:

Filmorchester unter der Leitung von Harry Rabinowitz: „Ripley“ aus: DER TALENTIERTE MR.RIPLEY / Original Filmmusik von Gabriel Yared
Label: Sony Classical SK 51337