Donnerstag, 10.6.2021, Kurt Neumann

Der poetische Act und der Bazillus der Prostitution

Im Mai 1955 ernteten sieben junge Männer, die [Zitat] als Berufe hochtrabend „Komponist, Schriftsteller“ oder „Maler“ angaben, Spott und Hohn bei Passanten und in der Presse, als sie vor dem Stephansdom schweigend gegen die Bewaffnung des Bundesheeres und die allgemeine Wehrpflicht protestierten.

Kurt Neumann ist Schriftsteller und Literaturkritiker und war viele Jahre Leiter des Literaturprogramms der Alten Schmiede in Wien.

Aktiv dabei war auch H. C. Artmann. Seine Erfahrungen in der deutschen Wehrmacht, deren Würgegriff er sich nach vier Jahren Kriegsdienst hatte entziehen können, werden ihn motiviert haben.

An brutaler Realität hatte er also genug erfahren, dieser hielt er die Tugendideale alter Zeiten entgegen, die das Bild einer friedlichen Gesellschaft beschworen. Seine literarischen Figuren-Spiele von Edelmut und Ritterlichkeit enthielten also durchaus auch politisch-utopische Elemente.

Literatur:
H.C. Artmann: Das poetische Werk. Unter Mitwirkung des Autors hrsg, von Klaus Reichert. München/Salzburg 1994
Edition Ö1 Doppel-CD „H.C. Artmann: pur & vertont“, 2021

Ebenso der „poetische act“, den er 1953 in „acht Punkten“ proklamiert hatte. Da hieß es u.a.: Es gibt einen satz, der unangreifbar ist, nämlich der, dass man dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein wort geschrieben oder gesprochen zu haben. Der siebente Punkt Der poetische act ist materiell vollkommen wertlos und birgt
deshalb von vornherein nie den bazillus der prostitution. Seine lautere vollbringung ist schlechthin edel behauptete ein existentielles Recht, sich dem bedingungslosen Zwang zur Verwertbarkeit zu entziehen.

Artmann entwarf idealisierte Gegenbilder und Korrektive, die einer dem ökonomisch-technokratischen Diktat unserer Tage unterworfenen Gesellschaft, deren Widersprüche derzeit wie blutige Geschwüre aufbrechen, zu Überlebensfragen werden.