Samstag, 18.9.2021, Jan-Heiner Tück

Dante – Spiegel des Lebens

Das Schöne, Vollkommene zur Darstellung zu bringen, ohne Langeweile zu erzeugen, ist schwer. Leichter ist es, Probleme aufzuwerfen und zu bearbeiten. Dante hat das Paradiso in dreiunddreißig Gesängen besungen.

Um die Besonderheit des Paradiso zu erfassen, lohnt sich ein Rückblick auf die Gesamtarchitektur der Divina Commedia, die man mit dem Dante-Forscher Karlheinz Stierle so fassen kann: „Im Inferno herrschte das unerbittliche Gesetz der kommunikationslosen Vereinzelung und der ewigen Durcharbeitung des verwirkten Seelenheils.

Jan-Heiner Tück ist Professor für Dogmatik an der Universität Wien

Das Purgatorio stand im Zeichen kommunikativen Austauschs und wechselseitiger Fürsorge und so des langsamen Prozesses der Vergemeinschaftung. Dagegen ist das Paradiso die vollendete Gemeinschaft der Heiligen in einer absoluten kommunikativen Transparenz. Die Seelen sind sie selbst und zugleich Teil einer göttlichen Ordnung, in der es keine Vorbehalte mehr gibt. Caritas, Nächstenliebe in der Gottesliebe ist es, was die Seelen antreibt.“ Hoch und höher geht es im Paradiso bis an die Schwelle zur seligen Gottesschau, die dem Jenseitswanderer Dante allerdings versagt bleibt. Das Werk endet mit dem Sturz zurück in die Welt, wo die Schmach des Exils durch die künstlerische Selbstbehauptung des Dichters kompensiert werden will.

Beim Lesen der Commedia kann man eine Erfahrung machen: Nicht nur du liest den Text, sondern auch umgekehrt: der Text liest dich und dein Leben! Er befragt dich. Selbst religiös unmusikalischen Zeitgenossen kann Dantes Werk helfen, ihr Leben reflexiv zu spiegeln. Gäbe es die Sicht der anderen Welt, wie stünde ich da? Gibt es schlechte Gewohnheiten, Leidenschaften oder gar Laster? Was sollte, könnte geändert werden? Was schließlich sind Stärken, für die ich dankbar sein kann und die ich ausbauen sollte? Die imaginäre Reise ins Jenseits kann so den Blick aufs Diesseits verändern und ungenutzte Lebensmöglichkeiten wecken.