Montag, 11.7.2022, Friedrich Orter

„Alles hat kein Ende“

Zum 100. Geburtstag von Georg Kreisler. „Ich singe in die blauwattierte Ferne…“ Die Nachrichten der neuen Woche sind absehbar und wiederholbar. Krieg in der Ukraine, Energieknappheit, Hungersnöte, Zukunftsängste, Pandemie, Wiederaufflammen der nie endenden Antisemitismus-Debatte. Wir hätten es ahnen und wissen können:

„Die Wirklichkeit ist verschwunden, und wir haben es nicht gemerkt“, lässt Georg Kreisler den Protagonisten seines Romans „Alles hat kein Ende“ sagen, einen Mann, dem die Welt aus den Fugen gerät. Kreislers Wirklichkeit war die Welt eines Vertriebenen und Emigranten, der nicht verdrängen und nicht vergessen konnte. In seiner unnachahmlichen Selbstbeschreibung liest sich das so: „Ich bin makaber, schauerlich, doch andererseits ganz nett/ und manchmal auch bedauerlich/ ein bisschen Kabarett Nehmt ihn nicht ernst! Er ist doch gut/Und er bemüht sich redlich/ Er ist ein Wiener und ein Jud/ Zusammen ist das tödlich.“

Friedrich Orter
ist Journalist und Autor

Ich bin makaber, schauerlich

In meiner Bibliothek halte ich ein vergilbtes dtv-Bändchen aus dem Jahr 1964 in Ehren. Titel: „Georg Kreisler: Zwei alte Tanten tanzen Tango. Seltsame Gesänge“. Als damals Fünfzehnjähriger dachte ich, einen Dichter entdeckt zu haben in der Nachfolge von Wedekind, Mehring, Ringelnatz, Kästner oder Morgenstern, bis ich kurz später herausfand, dass diese Texte auf Schallplatten nachzuhören waren. Surreale, sarkastische, melancholische, vertonte Gedichte, die Kreisler zu einem Idol meiner Jugendjahre machten.

Den späten Kreisler lernte ich vor zwei Jahrzehnten in Bela Korenys legendärer Wiener Broadway Bar kennen, in der seine Tochter Sandra gelegentlich Lieder ihres Vaters interpretierte und ein anderer prominenter Barbesucher, Kreislers Todfreund Gerhard Bronner, zu morgengrauer Stunde über beide lästerte. Ich erinnere mich an einen Konzertabend im Wiener Musikverein im Februar 1972, an dem Elfriede Ott, die Lebensgefährtin des frühen Kreisler-Bewunderers Hans Weigel, drei Kreisler-Lieder sang und den zuhörenden Meister in der Loge mit den Worten begrüßte: „Das ist unser Nestroy!“ Ob sich Kreisler geschmeichelt fühlte, weiß ich nicht. Aber Nestroys melodiösen Sprachduktus höre ich aus seinen Liedern, so böse, so makaber und sarkastisch sie sein mögen, immer wieder heraus.

„Ich singe Lieder in die blauwattierte Ferne.
Ich hänge Klagen an die pausenlose Zeit.
So hebt ein jeder seine winzige Laterne,
und ich lerne,
nur das Lied bleibt und die Hoffnungslosigkeit.
Denn seh´n Sie, so ist das Leben.
Und dieser Schaden lässt sich schwer beheben.
Andere singen ebenso – sicherlich, aber zu leise für mich.

Literaturhinweise:

  • Georg Kreisler: Alles hat kein Ende, Arco Verlag 2004
  • Georg Kreisler: Lola und das Blaue vom Himmel, Edition Memoria 2002
  • Georg Kreisler: Letzte Lieder, Arche Literaturverlag 2009
  • Hans-Juergen Fink und Michael Seufert: Georg Kreisler gibt es gar nicht, Fischer Verlag 2005
  • Georg Kreisler: Doch gefunden hat man mich nicht, Atrium Verlag 2014
  • Georg Kreisler: Seltsame Gesänge, dtv-Verlag 1964
  • Robert Lackner: Camp Ritchie und seine Österreicher, Böhlau Verlag 2020