Montag, 4.3.2024, Angelika Walser

Eine Mystikerin zum Frühstück

Als ich mein Frühstückcafé betrete, ist sie bereits da: Kein Wunder, eine adlige Äbtissin und Kirchenlehrerin kommt nicht zu spät!

Sie hat sich schön gemacht für dieses Gespräch: Sie trägt keinen Schleier, die feinen weißen Haare fallen ihr locker auf die Schulter. Mir fällt ein, dass Zeitzeuginnen aus dem 12. Jahrhundert entrüstet berichten, wie Hildegard von Bingen mit ihren Nonnen das benediktinische Stundengebet zelebrierte: Goldgewirkte Kränze auf dem Haar, goldene Ringe an den Fingern, offene Haare…

Hildegard von Bingen und die Grünkraft

Angelika Walser
ist katholische Theologin und Professorin für Theologische Ethik an der Universität Salzburg

„Sie wollten mit mir über die Grünkraft sprechen?“, reißt sie mich aus meinen Gedanken. Genau, über die Grünkraft und die Klimakrise, präzisiere ich. Ich muss Hildegard von Bingen nicht lange erklären, was uns Menschen heute bewegt: Die Theologin und Mystikerin war auch Medizinerin und Naturwissenschaftlerin. Vielleicht hätte sie heute Quantenphysik studiert. Jedenfalls war sie stets auf der Suche nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Für sie ist das die Grünkraft, die Lebensenergie, der Élan vital. Ohne diese Grünkraft wäre nichts: Keine Bewegung, kein Wachstum, keine Vielfalt. Sie verbindet alle Ebenen des Lebens: Körperliches und Geistiges, Kosmos und Individuum. Die Grünkraft ist der Atem desjenigen, der nach wie vor in seiner Schöpfung wirkt. Sie lässt dort nach, wo Menschen sich von dieser Verbindung selbst abschneiden. Dann droht eine Klimakrise – aber nicht nur ökologisch, sondern nach Hildegard auch im spirituellen und moralischen Sinn. Hässliche Gestalten wie Missgunst und Hochmut treten auf den Plan.

Dort aber, wo Menschen wieder in die Balance finden zwischen Zuviel und Zuwenig; wo sie wieder eine liebevolle und barmherzige Verbundenheit mit allem Geschaffenen pflegen – dort grünt und blüht es wieder.