Navid Kermani: Faszination Christentum
In kurzen Kapiteln zu Themen wie „Liebe“, „Tod“, „Auferstehung“ und Personen wie „Judith“ und „Petrus“ verfolgt er jeweils einen Gedanken, der aus der Betrachtung eines Kunstwerks heraus entstanden ist. So macht Kermani die Eindrücke, die er durch Bilder oder Skulpturen von großen Künstlern wie Caravaggio, Rembrandt, Veronese, Perugino, El Greco und vielen mehr aufgenommen hat, zu Ausgangspunkten für kurze Essays, kleine gedankliche Ausflüge in eine Religion, zu der er als Muslim eigentlich keinen selbstverständlichen Zugang hat.
Public Domain
Seine Eindrücke sammelte der Autor wie zufällig, auf Reisen, aber auch quasi „im Vorbeigehen“ in seinem Heimatort Köln. Begleitet wurde er dabei manchmal von einem namenlosen „katholischen Freund“, der so manchem Einfall durch seine andere Sichtweise eine andere Wendung gab.
Persönliche Betrachtungen christlicher Kunst
So verleitete beispielsweise Sandro Botticellis Jesus mit dem Kreuz den Autor dazu, über das Wesen der Erotik und der Darstellung von Schönheit als weiblich nachzusinnen, angesichts einer Statuette des Jesuskindes versucht er sich Christus als Kind zu vergegenwärtigen. Seine Betrachtungen geraten fast immer sehr philosophisch, poetisch, zum Teil schwärmerisch - und ganz und gar persönlich.
Public Domain
Dabei sind die Gedankenflüge des Orientalisten durch umfassendes Wissen über Religion, Kunst und Geschichte reich unterfüttert, was jedes Kapitel zu einer kleinen Bildungsreise macht. Hingebungsvoll beschreibt der Autor Farbe, Lichteinsatz und Gestaltung der Kunstwerke. Er liest aus Gesichtern, Hintergründen, Faltenwürfen und Körperhaltungen Details heraus, die sich bei einer flüchtigen Betrachtung nicht erschließen würden.
Mutter oder Geliebte?
El Grecos „Abschied Jesu von der Mutter“ etwa gibt in den Augen Kermanis viel mehr als die Beziehung der Mutter zu ihrem Sohn wieder: Er sieht, wie er im Kapitel „Liebe II“ schildert, in dem Bild vielmehr die Andeutung zweier Liebender. Dass Maria auf dem Gemälde so jung, ihrem Sohn gleichaltrig wirkt, ist auch so ein Detail, das man leicht übersehen könnte.
Navid Kermani liest im Rahmen einer Buchpräsentation im Akademietheater aus seinem Buch:
Public Domain
Über die „Schönheit“ Gottes
Der Autor betont immer wieder die Sinnlichkeit der christlichen Religion vor allem in ihrer katholischen Ausprägung, und deren Ausdruck in Kunstwerken. Vergleiche führen ihn immer wieder in die Welt der Sufis und islamischen Mystiker, deren Verständnis von der „Schönheit“ Gottes Ausdruck in Tanz und Poesie findet. Die „nüchternere“ protestantische Kirche hingegen hat Kermani vergleichsweise weniger zu sagen. Aufgewachsen Anfang der 1980er-Jahre im deutschen Siegen und geprägt von einem „streng protestantischen Umfeld“, so der Sohn iranischer Einwanderer, sei es ihm nicht gelungen, etwa die Trinität wirklich zu begreifen.
Erst als Erwachsener, angesichts eines schlichten, modernen Metallkreuzes des Münchner Künstlers Karl Schlamminger (geb. 1935), sei ihm „in der ästhetischen Erfahrung, wo plötzlich aus eins doch drei werden konnten“, auf nicht intellektuell nachvollziehbare Wiese „in der ästhetischen Darstellung des Kreuzes [...] etwas anschaulich“ geworden, „was mir keine Buchweisheit je anschaulich gemacht hat“.
C. H. Beck
Buchhinweis
Navid Kermani: „Ungläubiges Staunen. Über das Christentum“, C. H. Beck, 304 S., 24,95 Euro
Den ersten Eindruck einfangen
Er habe bei der Arbeit an den einzelnen Kapiteln versucht, „diesen ersten Blick zu haben, aber ihn eben nicht naiv zu haben, wie bei der ersten Betrachtung, ohne etwas zu wissen“, sondern durch das Wissen hindurch „dennoch diesen ersten Eindruck“ auf das jeweilige Bild einzufangen, sagte Kermani im Rahmen einer Buchpräsentation im Akademietheater am Mittwoch im Gespräch mit dem Literaturredakteur Stefan Gmünder.
Als Auslöser dafür, über Bilder zu schreiben, beschreibt Kermani, wie es ihm passierte, „in eine Kirche zu stolpern“, und, ohne damit zu rechnen, plötzlich direkt vor einem Caravaggio zu stehen, einem Kunstwerk also unvorbereitet zu begegnen, und zwar noch an dem Ort, für den es ursprünglich gemalt wurde, „noch an ihrem religiösen Ort“, nicht „in ein Museum verfrachtet“.
„Überwältigtsein“ als Initialzündung
Dieses „Überwältigtsein“ in der Kirche in Rom beschreibt Kermani als Initialzündung für einen anderen Blick auf das Christentum, das sich wie andere Religionen auch ästhetisch vermittle - „nicht durch Inhalte, sondern vor allem auch durch Bilder, durch Sinnlichkeit, Musik darstellt“. Dieses Erstaunen habe bei dem Aufenthalt in Rom begonnen, und diesem sei er über die Jahre hinweg nachgegangen. „Dort, wo ich war, habe ich hingeschaut“, so der Autor. Es gebe bessere, künstlerisch wertvollere Bilder als die, die er für sein Buch ausgewählt habe, sagte er - sie hätten aber bei ihm „nichts ausgelöst“.
APA/EPA/Alexander Heinl
Diese Bilder seien „nicht fern unserer Wirklichkeit“, so Kermani. Auch jetzt würden Menschen gekreuzigt, würde Menschen der Kopf abgetrennt, sagte er mit Blick auf die Gräueltaten der Terrorgruppe IS. „Wir haben in der christlichen Kunst den ganzen Kosmos menschlichen Handeln und vor allem auch menschlicher Erbarmungslosigkeit und auch menschlichen Erbarmens.“
Gesichter der Verzückung und des Leidens
„All das finden sie in diesen Bildern ja eingefangen“, so der Autor über die beschriebenen Kunstwerke. „Gesichter der Verzückung, Gesichter des Leidens, Akte höchster Aufopferung für andere Menschen, der Caritas - und zugleich auch das Schlimmstmögliche, was Menschen überhaupt tun können“: All das finde auch heute statt. „Mir kommen diese Bilder überhaupt nicht fern vor.“ So vergleicht Kermani auch im Buch Altes mit Aktuellem: „Bei Caravaggio weint Petrus nicht, er klagt nicht, winselt erst recht nicht um Gnade, aber auch auf YouTube wahren Menschen Haltung, die unterm Galgen oder vor Gewehrläufen stehen.“
Public Domain
Viel Raum gibt Kermani, der heuer mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt wurde, dem Schicksal des vor über zwei Jahren in Syrien vermutlich von Dschihadisten verschleppten Priester Paolo dall’Oglio. Der Jesuitenpater hatte die Gemeinschaft Dair Mar Musa al-Habaschi gegründet, deren Hauptanliegen die Ökumene und der Dialog mit dem Islam sind. In dall’Oglio verkörpert sich in Kermanis Augen die Möglichkeit einer Verbindung von Christentum und Islam als verwandter Religionen. Umso mehr berührt das Schicksal des verschleppten Priesters.
Johanna Grillmayer und Maria Harmer, religion.ORF.at