Hinter Gittern mit Extremisten: Ein Imam erzählt
„Gesetzt den Fall, ich stehe auf einer Todesliste ... wenn nun also jemand kommt, um mich zu töten ... würdest du mich etwa nicht beschützen?“, fragt Demir einen Häftling, den er in dem Buch anonymisiert den Namen Amr gibt. „Warum sollte ich, wenn er doch recht hat“, antwortet dieser. Amr ist ein Extremist, ein 22-jähriger Tschetschene, „radikal bis in die Spitzen der letzten Haarwurzel“ und einer dieser Insassen in der Justizanstalt Josefstadt, bei denen selbst Demir wenig Hoffnung auf Besserung hat.
„Brutstätten des Bösen“
Seit sieben Jahren ist Demir Seelsorger im größten Gefängnis Österreichs. 2016 übernahm er die Leitung der islamischen Gefängnisseelsorge bundesweit. Auf den Schultern des 31-Jährigen lastet viel Verantwortung. 33 islamische Gefängnisseelsorger gibt es insgesamt. Der Bedarf ist viel größer. Allein in der Josefstadt waren Ende Oktober 350 der 1.100 Inhaftierten Muslime.
Magdalena Blaszczuk
Einige der muslimischen Gefängnisinsassen sind wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt, nach dem sogenannten Terror-Paragrafen 278b. Sie sind es auch, die dazu beitragen, dass sich die Gefängnisse „längst zu Brutstätten des Bösen“ entwickelt haben, schreibt Demir.
Koran wichtigstes Werkzeug
Oft muss der Imam anregen, dass radikalisierte Gefängnisinsassen von anderen getrennt, in Einzelzellen isoliert werden. „Die Einflussnahme von Häftlingen auf Häftlinge ist beträchtlich“, schreibt Demir. Die extremistische Propaganda mache vor der Gefängnismauer nicht halt. Demir arbeitet dagegen. Sein wichtigstes Werkzeug ist der Koran.
Demir erzählt anonymisiert die Geschichten von Muslimen, die von Hasspredigern verblendet und indoktriniert wurden und von der Religion, die ihnen so absolut und heilig zu sein scheint, keine Ahnung haben. Denn Radikalisierte haben oft kaum religiöses Wissen, sie kennen nur einzelne Suren aus dem Koran - vornehmlich die, die zu Gewalt und Intoleranz aufrufen. Suren, die es Hasspredigern leicht machen, ihre Botschaft des Terrors zu verbreiten.
Erfolge auch im Gefängnis
Vom Gefängnisseelsorger hören viele erstmals andere Stellen - Passagen, die ihr extremistisches Weltbild erschüttern. Von einem barmherzigen und nicht strafenden Gott, Liebe, Toleranz und Gleichberechtigung. Das Ziel ist, Männer und die wenigen Frauen auf den richtigen Weg zurückzuführen, sie zum Nachdenken, Reflektieren, Zweifeln und zur Reue zu bringen. Es funktioniert bei vielen, wie Demir erzählt.
Von der Reue überwältigt
Einer davon ist Mansur, Kurde, Mitte 20, ein ehemaliger Kämpfer der Terrororganisation Islamischer Staat (IS). Bei einem der ersten Gespräche mit Demir sagte er: „Egal, was wir hier reden, Imam“ - wenn er aus dem Gefängnis raus sei, werde er zurück nach Syrien gehen, er habe „blendende Kontakte“ in der Region. Doch nach vielen Gesprächen mit dem Seelsorger beginnt der junge Mann zu zweifeln. Was will Allah wirklich?, fragt er sich und den Imam.
Eine Krise setzt ein, Mansur wird apathisch, selbstzerstörerisch, der aufreibende Prozess der Reue überwältigt ihn. Der Imam überzeugt ihn davon, dass Allah Sünden, die man bereut, vergibt. Mansur betet täglich stundenlang um Vergebung. Nach vielen Gesprächen „euphorischen Aufs und ebenso bitteren Abs (...) muss ich mir keine Sorgen mehr um Mansur machen“, schreibt Demir. „Er ist wie viele andere auch auf einem guten Weg.“
Viele Faktoren für Radikalisierung
In dem Buch gibt Demir tiefe Einblicke in das Seelenleben und die Gedankenwelt radikalisierter junger Menschen. Er zeigt auf, wie aus jungen Erwachsenen ohne Perspektiven auf der Suche nach Sinn nach und nach radikalisierte, gewaltverherrlichende und -bereite Menschen, Täter, werden. Er hinterfragt und analysiert in dem Buch, inwieweit die Rolle von Religion, patriarchalen Strukturen und Traditionen in islamisch geprägten Ländern den Boden für Radikalisierung bereiten. Er übt in dem Zusammenhang auch scharfe Kritik am Frauenbild der Extremisten und geht den Wurzeln auf den Grund.
edition a
Buchhinweis
Ramazan Demir: Unter Extremisten. Ein Gefängnisseelsorger blickt in die Seelen radikaler Muslime. edition a, 240 Seiten, 21,90 Euro.
Als wichtige Faktoren auf dem Weg zur Radikalisierung macht Demir Ausgrenzungserfahrungen der oft noch Jugendlichen, Rassismus und Ressentiments gegen Muslime sowie schwierige soziale Verhältnisse aus. Oft fehlte den jungen Männern zudem eine Vaterfigur. Hassprediger füllten diese Lücke.
Kritik an Politik
Ohne Schaum vor dem Mund, aber mit klaren Worten kritisiert Demir auch die politischen Verantwortlichen hierzulande. Sie würden zwar vor den Menschen warnen, die nach der Entlassung immer noch radikalisiert ihr Unwesen im Land treiben könnten, doch keine finanzielle Unterstützung leisten, damit die islamische Gefängnisseelsorge aufgestockt werden kann, um eben dieser drohenden Entwicklung entgegenzuwirken.
Dass die religiöse Betreuung von bereits radikalisierten Muslimen zentral ist, genauso wie von Muslimen, die erst im Gefängnis mit extremistischen Gedankengut in Berührung kommen und gefährdet sind sich zu radikalisieren, zeigt Demir in seinem Buch eindrücklich auf.
Mit Fußball das Eis brechen
Der Alltag als Gefängnisseelsorger ist schwierig. Demir hat zu wenig Zeit für Menschen, die bei ihm Rat und Orientierung suchen und zu wenig für Häftlinge, deren Entwicklung er (besorgt) beobachten möchte. „Warum bekommen Muslime im Gefängnis kein Halal-Fleisch, aber Juden koscheres Essen?“, „Darf ein Muslim seine Frau schlagen?“ - Demir muss viele verschiedene Fragen beantworten. Er muss sich viel Hass anhören und dabei versuchen, nicht zu bewerten, zuzuhören, dagegen zu argumentieren.
Offen geht Demir auch mit seinem eigenen Gefühlen und Gedanken um, wenn er mit Menschen zu tun hat, die sich dem IS angeschlossen haben. Etwa nach den Anschlägen in Paris, als er zum ersten Mal auf den Syrien-Rückkehrer Musa trifft. „Ob ich es nun will oder nicht, sagt eine Stimme in mir: Du bist einer von ihnen. Ob er nun in Paris mit von der blutrünstigen Partie war oder nicht.“ Demir besinnt sich wieder: „Rapid?“, fragt er. „Oder Austria Wien?“ Es ist seine Einstiegsfrage. Mit Fußball bricht er das Eis. Demir kann gut mit Menschen, auch mit Häftlingen.
Gefängnisseelsorger „nichts für mich“
Dabei wollte der gebürtige Deutsche mit türkischen Wurzeln gar nicht im Gefängnis arbeiten. Als ein Imam vor mehreren Jahren auf ihn zukommt und ihm anbietet, Gefängnisseelsorger zu werden, sagt Demir: „Es tut mir leid. Ich fühle mich durchaus geehrt, aber im Gefängnis ... nein, das ist nichts für mich.“
Kurze Zeit später hält er seine erste Predigt in der Moschee in der Justizanstalt Josefstadt vor fünfunddreißig Häftlingen. Sie sind zwischen vierzehn und einundzwanzig Jahre alt. Demir, damals selbst erst Mitte 20, findet einen Draht zu den jungen Menschen und wird ihr Ansprechpartner.
Wegen seiner Arbeit trachten ihm viele nach dem Leben. Extremisten inner- und außerhalb der Gefängnismauern wollen ihn tot sehen. Der Gefängnisseelsorger, Ehemann und Vater, denkt auch deshalb daran aufzuhören. Das wäre für die Gefängnisseelsorge sicherlich ein großer Verlust. Mit „Unter Extremisten“ hat Demir jedenfalls seine Erfahrungen und Expertise in einem Buch verewigt, das spannend geschrieben, lehrreich, bedrückend und zugleich voller Hoffnung ist. Ein Weckruf soll es sein.
Clara Akinyosoye, religion.ORF.at