Wer verträgt die Wahrheit?

Es heißt so schön: „Die Wahrheit ist immer der leichteste Weg!“ Ist das so? Nehmen wir im Alltag und im Umgang mit unseren Mitmenschen immer den leichtesten Weg?

Gedanken für den Tag 8.2.2017 zum Nachhören:

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Wenn es darum geht, etwas zu erreichen, sind wohl die wenigsten Leute bereit, die Wahrheit zu sagen. Im Beruf oder in einer freundschaftlichen Beziehung gehört nämlich Mut und vor allem Aufrichtigkeit dazu „die Wahrheit ist immer der leichteste Weg“ zu praktizieren. Ohje! Das kann schief gehen. Denn wer verträgt schon die Wahrheit?

Topsy Küppers
ist Schauspielerin und Autorin. Ihr Buch „Mein Ungustl - ein widerlicher Gast“ ist im Verlag Langen-Müller erschienen.

Die Goldwaage

Auf der Straße traf ich manchmal einen Musiker, der schon jahrzehntelang in einem berühmten Orchester spielte. Sein Gesichtsausdruck war immer in sich gekehrt und ernst und ich dachte mir, dass er wahrscheinlich über eine schwierige Musikpassage grübelte. Letztes Mal kam er mir lächelnd entgegen und grüßte besonders freundlich. Ich sagte: „Guten Morgen Herr Professor! Haben Sie im Lotto gewonnen?“ „Nein“, antwortete er, „aber ich bin jetzt in Pension!“

„Ach, und werden Ihnen die wunderbaren Konzerte nicht fehlen?“ Er sah mich ernsthaft an. „Kaum, ich musiziere ja weiter, ich unterrichte und ich kann meinen Schülern aufrichtig meine Anweisungen geben. Wissen Sie, im Orchester musste ich immer jedes Wort auf die Goldwaage legen….“ Wie viel Frust lag in diesem letzten Satz des Musikprofessors, und er kommt mir immer in den Sinn, sobald ich in ein Studio komme, oder in einem Team arbeite. Die Liebenswürdigkeit mit der Vorschläge abgelehnt werden – die Freundlichkeit mit der man auf Kritik reagiert – alles Worte von der Goldwaage? Man trifft Bekannte und bekommt Komplimente über Aussehen und Kleidung – die Goldwaage lässt grüßen.

Alle legen ihre Worte auf die Goldwaage. Vor einiger Zeit verließ ich, zusammen mit einem berühmten Regisseur eine Veranstaltung. Wir waren beide enttäuscht und wären am liebsten den Seitenblicken ausgewichen. Aber kein Entkommen. Bitte eine Wortspende! Da drückte der Kollege meinen Arm und flüsterte „Geh mer a bissel lügen…“

Im Talmud steht: „Wer bin ich, dass ich ihn beschäme?“ Ist es da nicht doch besser, der Erfahrung des Musikprofessors zu folgen und jedes Wort auf die Goldwaage zu legen?

Musik:

Vladimir Ashkenazy/Klavier, Itzhak Perlman/Violine und Lynn Harrell/Violoncello: „Allegro - 1. Satz“ aus: Trio op. 1 Nr. 1 in Es-Dur für Klavier, Violine und Violoncello von Ludwig van Beethoven
Label: EMI 7474552