Vom Guten und Bösen

Der Schauspieler Harald Windisch liest einen Text des libanesischen Dichters Khalil Gibran im Rahmen des Ö1-Schwerpunktes „Nebenan - Erkundungen in Europas Nachbarschaft: Libanon“

Gedanken für den Tag 14.3.2017 zum Nachhören:

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Und einer der Ältesten der Stadt sagte:
Sprich uns vom Guten und Bösen.
Und er antwortete:
Vom Guten in euch kann ich sprechen, aber nicht vom Bösen.
Denn was ist das Böse anderes als das Gute,
von seinem eigenen Hunger und Durst gequält?
Wahrhaftig, wenn das Gute hungrig ist,
sucht es Nahrung sofort in dunklen Höhlen;
und wenn es durstig ist, trinkt es sogar aus toten Gewässern.
Ihr seid gut, wenn ihr eins mit euch seid.
Doch wenn ihr nicht eins mit euch seid,
seid ihr dennoch nicht böse.
Denn ein uneiniges Haus ist keine Räuberhöhle; es ist nur ein entzweites Haus.
Und ein Schiff ohne Ruder kann ziellos zwischen gefährlichen Inseln treiben und doch nicht auf den Grund sinken.
Ihr seid gut, wenn ihr danach strebt,
von euch selber zu geben.
Doch ihr seid nicht böse, wenn ihr danach trachtet, etwas für euch selber zu gewinnen.
Denn wenn ihr nach Gewinn trachtet,
seid ihr nichts als eine Wurzel,
die sich an die Erde klammert und an ihrer Brust saugt.
Sicher kann die Frucht nicht zur Wurzel sagen: „Sei wie ich, reif und voll, und gib immer von deiner Fülle."
Denn für die Frucht ist das Geben eine Notwendigkeit, so wie Empfangen eine Notwendigkeit für die Wurzel ist.
Ihr seid gut, wenn ihr fest und mit kühnen Schritten auf euer Ziel zugeht.
Doch ihr seid nicht böse, wenn ihr hinkend darauf zugeht.
Selbst die Hinkenden gehen nicht rückwärts.
Aber ihr, die ihr stark und schnell seid, seht zu, dass ihr nicht vor den Lahmen hinkt und es für Freundlichkeit haltet.
Ihr seid auf zahllose Weisen gut, und ihr seid nicht böse, wenn ihr nicht gut seid,
Ihr seid nur säumig oder faul.
In eurer Sehnsucht nach eurem höchsten Ich liegt eure Güte: und diese Sehnsucht ist in allen von euch.

Buchhinweis:

Khalil Gibran, "Der Prophet“, dtv-Taschenbuch

Musik:

„Dekalog V“ aus: DEKALOG / Soundtrack von Zbigniew Preisner
Label: Pomaton POM CD 018