Religiöser Straßengraben

In einem kleinen Andachtsbüchlein aus dem Jahr 1897 fand ich folgendes Gebet...

Gedanken für den Tag 6.9.2017 zum Nachhören:

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Mit Demut küsse ich die Vaterhand, die mich züchtigt zur Warnung und zur Besserung. Vor Dir lege ich also allen meinen Kummer und dieses Leiden nieder und sage: Herr, mache es mit mir nach Deinem göttlichen Wohlgefallen. Einst werde ich mit frohem Dank auch für meine Leiden Dich preisen. Amen.

Rainer Bucher
ist katholischer Theologe und lehrt an der Karl Franzens Universität Graz

Mit dem falschen Alltag brechen

Das ist Demut als religiöser Straßengraben. Gott und das Leiden des Alltags werden hier religiös zwangsgekoppelt. Man darf den Alltag, und sei er noch so unerträglich, unter der Androhung des religiösen Heilsverlustes nicht verlassen. Nicht den Alltag des Berufs, nicht den Alltag der Ehe, nicht den Alltag des eigenen Standes und schon gar nicht den Alltag der eigenen, angeblich gottgewollten Geschlechterrolle.

Da ist es schon ein Schritt klagen zu können, dem eigenen Leiden Worte geben zu können, Worte des Jammers und der Wut, der Klage und der Anklage, sie sind ein erster Schritt zurück ins Leben, in die Kommunikation, in die Selbstfindung des Ichs. Eine Religion, die nicht klagen kann und eine Religiosität, die Klage nicht formulieren kann, auch und gerade dem abwesenden Gott gegenüber, ist fern unserer Existenz, ist zuletzt unmenschlich.

Deshalb ist vielleicht das Gefährlichste am Alltag, dass seine Leiden so klein und versteckt sind, so alltäglich, dass man sich mit ihnen arrangiert hat und man gar nicht merkt, wie falsch er ist. Mit einem falschen Alltag zu brechen, heißt in der geistlichen Tradition Umkehr.

Musik:

I Musici: „Allegro - 3. Satz“ aus: Concerto für 2 Violinen, Streicher und B.c. in a-moll op. 3 Nr. 8 RV 522 von Antonio Vivaldi
Label: Philips 4121302