Wie auch wir vergeben unseren Gläubigern

Die Wall Street in New York gilt uns heute als eine besondere Spielstätte des Reichtums, manche sagen ja des Casino-Kapitalismus. Aber bis ins 18. Jahrhundert hatte dieser Ort einen ganz anderen Ruf.

Gedanken für den Tag 26.9.2018 zum Nachhören:

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Die Wall Street war bekannt für ihr Schuldgefängnis. Nach Augenzeugenberichten ließen die Häftlinge ihre Schuhe an Schnüren aus ihren Zellen herunter auf die Straße, in der Hoffnung Passanten würden ein Stück Brot oder einen Penny hineintun. Die Schuldner waren damals die wirklich Geschundenen und die Gläubiger oft grausamer als mancher Verbrecher. Oft reichten Außenstände im Gegenwert eines Sacks Rüben, um wochenlang eingekerkert zu werden und Ehefrauen und Kinder der Häftlinge wie Sklaven zu behandeln, wie empörte Zeitgenossen berichten.

Oliver Tanzer
ist Wirtschaftsjournalist bei der Wochenzeitung „Die Furche“

Die zweite Chance

Damals wäre wohl ein umgeschriebenes Vater unser angebracht gewesen: „… wie auch wir vergeben unseren Gläubigern“. Tatsächlich behinderten damals die Gesetze nicht nur die Menschlichkeit, sondern auch die wirtschaftliche Entwicklung. Nicht nur, weil sie alle unglücklich Wirtschaftenden zu Verbrechern stempelten, sondern weil sie durch ihre Härte Tausende davon abschreckten, sich mit geborgtem Geld etwas aufzubauen.

Tatsächlich gründet sich die Industrielle Revolution nicht allein auf der Erfindung der Dampfmaschine und der Eisenbahn. Vielmehr wurde sie von einer scheinbar unbedeutenden Gesetzesreform angetrieben: Das Konkursrecht mit beschränkter Haftung im Jahr 1856. Der Schutz der Kaufleute und Kreditnehmer ergab eine Explosion an Investitionen, in Projekte, Erfindungen, Forschung und Entwicklung. Es gab hunderte Pleitiers, die es im zweiten Anlauf trotzdem noch schafften, ihre Ideen umzusetzen.

Seltsam, diese Geschichten der zweiten Chance werden kaum erzählt. Lieber schwärmen heute die einen vom heldenhaften Unternehmer, die anderen vom unterdrückten Helden der Arbeit. Was aber, wenn das eigentliche Geheimnis des Fortschritts nicht in Helden und Heldensklaven zu suchen ist, sondern dort, wo Schuldner und Gläubiger sich aufeinander zubewegen, im teilweisen Schuldenerlass – und also in ökonomischer Vergebung.

Musik:

Loreena McKennitt: „La serenissima"
Label: WEA 0630194042